Dieser Ansicht steht eine diametral entgegengesetzte Auffassung gegenüber, die annimmt, dass die polizei- bzw. ordnungsrechtlichen Standardmaßnahmen immer Realakte darstellen. Standardmaßnahmen berechtigten nur dazu, Tathandlungen vorzunehmen. Diese Auffassung stellt auf das äußere Erscheinungsbild der Standardmaßnahmen ab, die nach ihrem tatsächlichen Geschehensablauf in erster Linie darauf gerichtet sind, einen tatsächlichen Erfolg herbeizuführen.[33] Nach dieser Ansicht stellen alle Standardmaßnahmen in unserem Beispiel oben (das Anhalten des Mannes zwecks Identitätsfeststellung, die Aufforderung, den Personalausweis zu zeigen, und die Durchsuchung des Rucksacks) Realakte dar.
Zwischen diesen beiden extremen Positionen findet sich eine dritte Ansicht, die die Rechtsnatur von Standardmaßnahmen differenziert beurteilt: Sofern Standardmaßnahmen ganz eindeutig den Erlass von Ge- oder Verboten gegenüber dem anwesenden Adressaten enthielten, seien sie als Verwaltungsakte i.S.d. § 35 VwVfG NRW zu qualifizieren. Mangels Regelung seien manche Standardmaßnahmen aber dagegen nur als Realakte zu qualifizieren. Hier mache schon der Wortlaut der Standardermächtigung deutlich, dass die betreffende Standardmaßnahme nur ein tatsächliches, reales hoheitliches Handeln zum Gegenstand habe (z.B. der Gewahrsam).[34] Außerdem überzeuge die Konstruktion eines Verwaltungsaktes mittels Fiktion einer Duldungsverfügung in den Fällen nicht, in denen der Betroffene nicht anwesend sei und dem fiktiven Erlass einer Duldungsverfügung kein Adressat gegenüberstehe.[35] Nach dieser Ansicht sind das Anhalten des Mannes zwecks Identitätsfeststellung und die Aufforderung des Mannes, den Personalausweis zu zeigen, als Verwaltungsakte zu qualifizieren, während die Durchsuchung des Rucksacks einen Realakt darstellt.
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Alle drei Ansichten sind vertretbar. Aus klausurtaktischen Gründen kann es regelmäßig empfehlenswert sein, der ersten Ansicht zu folgen, die die Standardmaßnahmen immer als Verwaltungsakt qualifiziert, weil Sie dann Ihren Fall z.B. in einer Anfechtungskonstellation prüfen können. Nicht unberechtigt scheint aber zumindest der von der dritten Ansicht gegen die erste Ansicht erhobene Einwand in Bezug auf die Konstruktion eines Verwaltungsaktes mittels Fiktion einer Duldungsverfügung bei einem abwesenden Betroffenen zu sein. In einer solchen Fallkonstellation dürfte eine differenzierte Betrachtung angezeigt sein und müsste die Annahme eines Verwaltungsaktes überzeugend begründet werden.
Sofern Sie das Vorliegen eines Verwaltungsaktes verneinen und statt dessen einen Realakt bejahen, kann sich der Betroffene hiergegen mittels allgemeiner Leistungsklage und nach § 123 VwGO zur Wehr setzen.
3. Polizei- bzw. ordnungsrechtliche Generalklausel
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Soweit die Gefahrenabwehrverfügung weder auf eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage noch auf eine polizei- bzw. ordnungsrechtliche Standardermächtigung gestützt werden kann, ziehen Sie in einem dritten Schritt die polizei- bzw. ordnungsrechtliche Generalklausel des § 8 Abs. 1 PolG NRWbzw. § 14 Abs. 1 OBGals Ermächtigungsgrundlage heran. Die polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel erfasst alle Fallkonstellationen, soweit diese nicht bereits von vorrangig anwendbaren und ggf. abschließenden Ermächtigungsgrundlagen erfasst werden.
[1]
Vgl. Degenhart Staatsrecht I Rn. 304 ff. (str.).
[2]
Vgl. Degenhart Staatsrecht I Rn. 310 ff.
[3]
Vgl. Degenhart Staatsrecht I Rn. 313 ff.
[4]
Vgl. hierzu allgemein Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 41.
[5]
Vgl. zum Ganzen Götz/Geis Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht § 7 Rn. 7.
[6]
Vgl. BVerfGE 105, 252.
[7]
Vgl. BVerfGE 105, 279.
[8]
Vgl. Schenke Polizei- und Ordnungsrecht Rn. 41 und Rn. 653.
[9]
Bundesimmissionsschutzgesetz.
[10]
Gaststättengesetz. In Nordrhein-Westfalen existiert derzeit kein LGastG, so dass das BGastG gemäß Art. 125a Abs. 1 GG fortgilt, bis es durch Landesrecht ersetzt wurde.
[11]
Gewerbeordnung.
[12]
Handwerksordnung.
[13]
Straßen- und Wegegesetz des Landes Nordrhein-Westfalen.
[14]
Straßenverkehrsgesetz.
[15]
Straßenverkehrszulassungsordnung.
[16]
Versammlungsgesetz.
[17]
Vgl. Mann in: Erbguth/Mann/Schubert, Besonderes Verwaltungsrecht Rn. 619.
[18]
Vgl. auch Drews/Wacke/Vogel/Mertens Gefahrenabwehr S. 154 f.
[19]
Vgl. Kingreen/Poscher Polizei- und Ordnungsrecht § 3 Rn. 25 ff.
[20]
Fassung der Bekanntmachung vom 15.11.1978 (BGBl. I, S. 1789 mit Änderungen).
[21]
In Nordrhein-Westfalen existiert derzeit kein LVersG, so dass das BVersG gilt.
[22]
BVerwGE 82, 34.
[23]
Vgl. Wehr Examens-Repetitorium Polizeirecht Rn. 258 und Rn. 259 ff., auf denen die nachfolgenden Ausführungen (mit Ausnahme der Beispiele ) im Wesentlichen beruhen.
[24]
Hervorhebung nicht im Original.
[25]
Vgl. zum Ganzen BVerwGE 64, 55.
[26]
Vgl. hierzu auch Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 304.
[27]
Vgl. zum Ganzen Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 307; auch BVerfG (K) NVwZ-RR 2010, 625.
[28]
Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 154.
[29]
Vgl. hierzu Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 104.
[30]
Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 101.
[31]
Vgl. auch Schenke Polizei- und Ordnungsrecht Rn. 114.
[32]
Vgl. zum Ganzen etwa Schenke Polizei- und Ordnungsrecht Rn. 115 f.
[33]
Vgl. zum Ganzen etwa Schmitt-Kammler NWVBl. 1995, 166.
[34]
Vgl. zum Ganzen etwa Drews/Wacke/Vogel/Martens Gefahrenabwehr S. 215 ff.
[35]
Vgl. Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 119.
3. Teil Gefahrenabwehrverfügungen nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht› C. Formelle Rechtmäßigkeit der Gefahrenabwehrverfügung
C. Formelle Rechtmäßigkeit der Gefahrenabwehrverfügung
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Nachdem Sie die einschlägige Ermächtigungsgrundlage herausgearbeitet haben, untersuchen Sie nun die formelle Rechtmäßigkeit der Gefahrenabwehrverfügung in fünf Schritten:
3. Teil Gefahrenabwehrverfügungen nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht› C. Formelle Rechtmäßigkeit der Gefahrenabwehrverfügung› I. Zuständigkeit
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Im ersten Schritt prüfen Sie die Zuständigkeit für den Erlass der Gefahrenabwehrverfügung und unterscheiden dabei regelmäßig zwischen der sachlichen und der örtlichen Zuständigkeit.
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Die instanzielle (funktionelle) Zuständigkeit, die festlegt, welche Behördeninstanz innerhalb der sachlich zuständigen Behörde für die Wahrnehmung von Aufgaben zuständig ist,[1] brauchen Sie regelmäßig nicht gesondert zu prüfen, weil sie in der Regel mit der sachlichen Zuständigkeit zusammenfällt. So sieht z.B. § 5 Abs. 1 S. 1 OBG vor, dass die örtliche Ordnungsbehörde für die Aufgaben der Gefahrenabwehr zuständig ist. Mit der Zuweisung der sachlichen Zuständigkeit an die örtliche Ordnungsbehörde ist gleichzeitig geklärt, dass die unterste Behördeninstanz instanziell (funktionell) zuständig ist. Höhere Behördeninstanzen sind demgegenüber nur ausnahmsweise instanziell (funktionell) zuständig, und zwar im Falle des sog. Selbsteintrittsrechts. Ein Selbsteintrittsrecht existiert nur im Falle einer entsprechenden gesetzlichen Ermächtigung (meist bei Gefahr im Verzug oder bei Nichtbefolgung einer fachaufsichtlichen Weisung durch die niedrigere Behördeninstanz; s. z.B. § 10 OBG).
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