bb) Sachlicher Regelungsbereich des Versammlungsgesetzes
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Im Versammlungsgesetz hat der Gesetzgeber die in Art. 8 GG enthaltene Unterscheidung zwischen Versammlungen in geschlossenen Räumen, die in Art. 8 Abs. 1 vorbehaltlos gewährleistet werden, und Versammlungen unter freiem Himmel, die in Art. 8 Abs. 2 GG einem Gesetzesvorbehalt unterliegen, aufgegriffen (vgl. zu den Gewährleistungen des Art. 8 GG Skript „Grundrechte“ Rn. 456 ff.). Das Versammlungsgesetz enthält in §§ 5 ff. Regelungen in Bezug auf Versammlungen in geschlossenen Räumen und in §§ 14 ff. Vorschriften hinsichtlich Versammlungen unter freiem Himmel.
(1) Versammlungen in geschlossenen Räumen (§§ 5 ff. VersG)
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Machen Sie sich mit den §§ 5 ff. VersG vertraut und lesen Sie die Vorschriften zunächst einmal durch!
Eingriffe in Versammlungen, die in geschlossenen Räumen stattfinden, können nur durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden (s. hierzu Skript „Grundrechte“ Rn. 467). Dementsprechend hoch sind die Anforderungen, die an Eingriffe in solche Versammlungen gestellt werden. Für Versammlungen in geschlossenen Räumen sieht das Versammlungsgesetz nur folgende mögliche Eingriffsmaßnahmen vor: Vor dem Begin einer Versammlung ein Verbot der Versammlung (§ 5 VersG)sowie nach dem Beginn einer Versammlung die Anfertigung von Bild- und Tonaufnahmen (§ 12a Abs. 1 VersG), deren Speicherung (§ 12a Abs. 2 VersG)und – als ultima ratio – die Auflösung einer Versammlung (§ 13 VersG).
Beispiel
Während einer Kundgebung in einer öffentlichen Sporthalle, an der mehrere hundert Personen teilnehmen, durchsucht die Polizei die Taschen zahlreicher Teilnehmer, weil sie den anonymen Hinweis erhalten hat, dass Teilnehmer unerlaubte Betäubungsmittel bei sich führen. – Fraglich ist, ob die Durchsuchung der Taschen rechtmäßig ist. Dagegen könnte sprechen, dass nach Beginn der Versammlung nur noch Eingriffsmaßnahmen auf der Grundlage der §§ 5, 12a Abs. 1 und Abs. 2 oder § 13 VersG zulässig sind. Durchsuchungen sind in diesen Vorschriften nicht vorgesehen. Allerdings ist die in § 13 Abs. 1 S. 1 VersG geregelte Auflösung einer Versammlung eine ultima ratio-Maßnahme, wie § 13 Abs. 1 S. 2 VersG zeigt. Die in § 13 Abs. 1 S. 2 VersG genannte Unterbrechung einer Versammlung steht beispielhaft für andere polizeiliche Maßnahmen, die milder als eine Auflösung der Versammlung sind. Zu diesen milderen Maßnahmen gehören vor allem die polizeilichen Standardmaßnahmen, die jedoch nicht unter Umgehung der strengen Voraussetzungen des Versammlungsgesetzes ergriffen werden dürfen. § 13 Abs. 1 S. 2 VersG enthält daher eine Art Rechtsfolgenverweisung auf das allgemeine Gefahrenabwehrrecht. Die Durchsuchung der Taschen von Teilnehmern kann daher nur auf der Grundlage und unter den Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 S. 1 VersG erfolgen. Da die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 S. 1 VersG nicht vorliegen, ist die Durchsuchung der Taschen als Rechtsfolge einer polizeilichen Standardmaßnahme rechtswidrig.
(2) Versammlungen unter freiem Himmel (§§ 14 ff. VersG)
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Lesen Sie die §§ 14 ff. VersG!
§§ 14 ff. VersG füllen den Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG zum Teil abschließend aus (vgl. zum Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG Skript „Grundrechte“ Rn. 464 ff.). § 15 VersG enthält mit dem Verbot einer Versammlung bzw. der Anordnung von Auflagenvor Beginn einer Versammlung (Absatz 1) und der Auflösung einer Versammlungnach ihrem Beginn (Absatz 3) Ermächtigungsgrundlagen, die gleichartige Maßnahmen auf der Grundlage der allgemeinen Gefahrenabwehrgesetze ausschließen.
Beispiel
Wie Beispiel oben ( Rn. 76) mit dem Unterschied, dass die Kundgebung auf dem Marktplatz der Stadt B stattfindet. – Fraglich ist, ob die Durchsuchung der Taschen zahlreicher Teilnehmer rechtmäßig ist. Dagegen könnte auch hier sprechen, dass die Ermächtigungsgrundlagen des Versammlungsgesetzes eine abschließende Regelung in Bezug auf die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen möglicher Gefahrenabwehrmaßnahmen treffen, so dass eine Durchsuchung von Taschen, die in §§ 14 ff. VersG nicht vorgesehen ist, rechtswidrig wäre. Das Bundesverwaltungsgericht hat jedoch die Formulierung in § 15 Abs. 1 VersG („Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, …“)[24] als Verweis auf Ermächtigungsgrundlagen, die der zuständigen Behörde nach Landesrecht zustehen, ausgelegt. Gleichzeitig hat das Bundesverwaltungsgericht aus der Bezugnahme in § 15 Abs. 3 VersG auf die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 VersG gefolgert, dass die zuständige Behörde von diesen Befugnissen auch während einer Versammlung Gebrauch machen könne.[25] Die darauf gestützten Maßnahmen stellen sog. Minus-Maßnahmendar.[26] Auch hier liegt damit eine Art Rechtsfolgenverweisung auf die Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Gefahrenabwehrrechts vor. Da die Polizei aufgrund des anonymen Hinweises annehmen muss, dass Teilnehmer gegen betäubungsmittelrechtliche Vorschriften verstoßen und dadurch unmittelbar die öffentliche Sicherheit gefährden, kann sie die Taschen von Teilnehmern durchsuchen.
cc) Zeitlicher Regelungsgehalt des Versammlungsgesetzes
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In zeitlicher Hinsicht differenziert das Versammlungsgesetz zwischen dem Zeitraum vor dem Beginn einer Versammlung, dem Zeitraum der Dauer einer Versammlung und dem Zeitraum nach der Beendigung einer Versammlung.
(1) Zeitraum vor dem Beginn einer Versammlung
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Vor dem Beginn einer Versammlung kann die Versammlung verboten oder die Durchführung der Versammlung von Auflagen abhängig gemacht werden (vgl. §§ 5, 15 Abs. 1 VersG). Ansonsten enthält das Versammlungsgesetz einige Vorschriften, die Ge- oder Verbote beinhalten (z.B. § 2 Abs. 3 S. 1, § 17a Abs. 1 und Abs. 2 VersG). Eine Ermächtigungsgrundlage für die Durchsetzung solcher Ge- oder Verbote gibt es aber nur in § 17a Abs. 4 VersG. Aus diesem Umstand wird abgeleitet, dass das Versammlungsgesetz für den Zeitraum vor dem Beginn einer Versammlung keine abschließende Regelungenthält. Folge davon ist, dass vor dem Beginn einer Versammlung die Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts anwendbarsind.
Beispiel
Nach § 12 Abs. 1 Nr. 4 PolG NRW kann die Polizei an einer Kontrollstelle, die von ihr eingerichtet wurde, um z.B. eine Straftat nach § 129a StGB zu verhindern, die Identität anreisender Versammlungsteilnehmer feststellen.
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Art. 8 GG gewährleistet neben dem Recht auf Abhalten einer Versammlung auch das Recht auf das „Sich Versammeln“, d.h. das Recht auf einen ungehinderten Zugang zum Versammlungsort (vgl. hierzu näher das Skript „Grundrechte“ Rn. 456 f.).
Beispiel
Die Polizei kontrolliert die Zufahrtsstraßen zur Innenstadt von K, wo in einigen Stunden eine Großdemonstration stattfinden soll. Bei ihren Kontrollen stellt die Polizei die Identität der Personen fest. – Bei diesen Maßnahmen der Polizei handelt es sich um sog. „Vorfeldmaßnahmen“. Sie werden auf der Grundlage des Polizeigesetzes NRWvorgenommen. Wenn die Polizei durch ihre Maßnahmen jedoch den Zugang zum Versammlungsort zumindest erheblich erschwert, richtet sich die Zulässigkeit dieser Maßnahmen nach dem Versammlungsgesetz.[27]
(2) Zeitraum während der Versammlung
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Während einer Versammlung existieren insbesondere mit §§ 12a, 13 und 15 Abs. 2 VersGim oben beschriebenen Umfang abschließende Eingriffsermächtigungen.
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