Beispiel
Die Polizei erhält den anonymen Hinweis, dass G im Keller seines Hauses das bei seinen Einbruchstouren erbeutete Diebesgut lagert, das er im Internet gewinnbringend verkaufen will. Die Polizei fährt daraufhin zum Haus des G, durchsucht den Keller und findet dort tatsächlich größere Mengen Diebesgut. Sie beschlagnahmt das Diebesgut und nimmt G vorläufig fest. – Soweit die Polizei gegenüber G einschreitet, um zu verhindern, dass G das Diebesgut gewinnbringend im Internet weiterverkauft, wird sie präventiv zur Vermeidung künftiger Straftaten tätig und somit im Bereich der Gefahrenabwehr. Soweit die Polizei das Diebesgut beschlagnahmt und G vorläufig festnimmt, wird die Polizei dagegen repressiv im Bereich der Strafverfolgung tätig.
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Um zu verhindern, dass die Polizei bei den doppelfunktionalen Maßnahmen verschiedenen Regelungssystemen und unterschiedlichen Weisungshierarchien unterworfen ist, wird nach verbreiteter Ansicht der Schwerpunkt der Maßnahme anhand ihres objektiven Zwecks nach dem Gesamteindruck der Maßnahmeermittelt und die Maßnahme sodann dem dafür einschlägigen Regelungssystem unterworfen.[8] In unserem Beispiel oben ( Rn. 53) wäre der Schwerpunkt also anhand des objektiven Zwecks nach dem Gesamteindruck der polizeilichen Maßnahmen zu ermitteln. Der objektive Zweck der polizeilichen Maßnahmen bestand nach dem Gesamteindruck darin, G als Straftäter zu überführen. Der Schwerpunkt der polizeilichen Maßnahmen bestand daher in der Verfolgung bereits begangener Straftaten. Die Polizei handelt damit auf der Grundlage der Bestimmungen der Strafprozessordnung.
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Diese Auffassung ist jedoch nicht unbestritten.[9] So steht z.B. Götz auf dem Standpunkt, dass die Qualifizierung einer polizeilichen Maßnahme anhand ihrer objektiven Zwecksetzung nicht auf eine Feststellung des Schwerpunkts der Gesamtmaßnahme hinauslaufe. Auf diesem Wege werde lediglich festgestellt, ob eine Maßnahme der Strafverfolgung vorliege. Sei dies der Fall, bleibe es dabei, dass Strafverfolgung vorliege und der Präventionszweck in der Strafverfolgung aufgehe. In unserem Beispiel oben ( Rn. 53) ergreift die Polizei mit der Beschlagnahme des Diebesguts und der vorläufigen Festnahme des G mehrere Maßnahmen der Strafverfolgung. Sie haben den Nebeneffekt, G daran zu hindern, weitere Straftaten zu begehen. Es liegt somit ein Fall der sog. „Prävention durch Repression“vor, in dem die polizeilichen Maßnahmen im Zweifel ausschließlich als strafprozessuale Maßnahmen zu qualifizieren sind.[10]
JURIQ-Klausurtipp
In der Fallbearbeitung werden Sie sehen, dass beide Ansichten regelmäßig zu demselben Ergebnis kommen, so dass Sie die Problematik zwar kennen und ansprechen, aber nicht überbewerten sollten.
Denken Sie daran: Die Problematik der doppelfunktionalen Maßnahme kann allein bei Maßnahmen der Polizei relevant werden, weil nur sie repressive Befugnisse im Rahmen der Strafverfolgung besitzt. In einer Fallbearbeitung, in der die Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfs zu prüfen sind, müssen Sie die Problematik der doppelfunktionalen Maßnahme bei der Frage der Eröffnung des Rechtswegs nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO erörtern; als abdrängende Sonderzuweisung kommt unter Umständen § 23 EGGVG – ggf. i.V.m. § 98 Abs. 2 S. 2 StPO (u.U. analog) – in Betracht.[11] Bei einer Fallbearbeitung im Öffentlichen Recht werden Sie aber – allein schon aus klausurtaktischen Gründen – das Eingreifen einer abdrängenden Sonderzuweisung verneinen können.
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[1]
Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 26.
[2]
Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 26.
[3]
Vgl. hierzu näher Götz/Geis Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht § 18 Rn. 1 ff.
[4]
Vgl. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 30.
[5]
Vgl. BVerwGE 47, 255.
[6]
Vgl. Götz/Geis Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht § 18 Rn. 19.
[7]
Zu dem weiteren, wohl weniger prüfungsrelevanten Problemkreis der Maßnahmen polizeilicher Eigensicherung s. Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 32.
[8]
Vgl. BayVGH NVwZ 1986, 655.
[9]
Vgl. mit unterschiedlichen Argumenten kritisch etwa Dietlein in: Dietlein/Hellermann, Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen § 3 Rn. 31; Götz/Geis Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht § 18 Rn. 19; Wolffgang/Hendricks/Merz Polizei- und Ordnungsrecht in Nordrhein-Westfalen Rn. 45.
[10]
Vgl. allgemein Rachor in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts 4. Aufl. 2007 K Rn. 30.
[11]
Vgl. zum Rechtsweg bei nicht eindeutiger Zielrichtung einer polizeilichen Maßnahme OVG NRW NVwZ-RR 2014, 863; OVG Nds . NVwZ-RR 2014, 327.
3. Teil Gefahrenabwehrverfügungen nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht
Inhaltsverzeichnis
A. Überblick
B. Ermächtigungsgrundlage für die Gefahrenabwehrverfügung
C. Formelle Rechtmäßigkeit der Gefahrenabwehrverfügung
D. Materielle Rechtmäßigkeit der Gefahrenabwehrverfügung
E. Übungsfall Nr. 1
3. Teil Gefahrenabwehrverfügungen nach allgemeinem Polizei- und Ordnungsrecht› A. Überblick
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Nachdem Sie sich nun einige wichtige Grundlagen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts erarbeitet haben, werden wir uns in diesem Teil des Skripts mit der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Gefahrenabwehrverfügung, die auf der Grundlage des allgemeinen Polizei- bzw. Ordnungsrechts erlassen wurde, befassen. Von einer Gefahrenabwehrverfügungwird gesprochen, wenn es sich bei der betreffenden polizei- bzw. ordnungsrechtlichen Maßnahme um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG NRWhandelt. Eine prüfungstypische Konstellation besteht darin, dass eine Gefahrenabwehrverfügung erlassen wird, die der Betroffene mittels Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO angreift, weil er die Verfügung für rechtswidrig hält und sich in seinen Rechten verletzt fühlt. Sofern die Gefahrenabwehrverfügung sich erledigt hat, kann der Betroffene die Rechtmäßigkeit mittels einer Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO (analog) klären (s. dazu Skript „Verwaltungsprozessrecht“).
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Die Rechtmäßigkeit einer nach allgemeinem Polizei- bzw. Ordnungsrecht erlassenen Gefahrenabwehrverfügung prüfen Sie wie folgt:
Rechtmäßigkeit einer nach allgemeinem Polizei- bzw. Ordnungsrecht erlassenen Gefahrenabwehrverfügung
I. Ermächtigungsgrundlage für die Gefahrenabwehrverfügung
1.Spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage
2.Polizei- und ordnungsrechtliche Standardermächtigung
3.Polizei- und ordnungsrechtliche Generalklausel
II. Formelle Rechtmäßigkeit der Gefahrenabwehrverfügung
1.Zuständigkeit
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