Beispiel[145]
Landwirt L stellt bei der zuständigen Baugenehmigungsbehörde B einen Antrag auf Genehmigung der Errichtung eines Holzhauses im Außenbereich (§ 35 BauGB). B legt den Antrag der Gemeinde G, in deren Gebiet das Bauvorhaben stattfinden soll, zur Genehmigung nach § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB vor. G verweigert das Einvernehmen, woraufhin B die Erteilung der Baugenehmigung gegenüber L ablehnt. Wäre eine Verpflichtungsklage des L statthaft, mit der er die Verpflichtung von G zur Erteilung des Einvernehmens begehrt?
Die Verpflichtungsklage wäre nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO dann die statthafte Klageart, wenn das Einvernehmen der Gemeinde nach § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB als Verwaltungsakt zu qualifizieren ist. Dieser setzt begrifflich u.a. voraus, dass es sich um eine behördliche Maßnahme handelt, die „auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet“ ist, siehe § 35 S. 1 VwVfG. Eine solche Wirkung kommt dem gemeindlichen Einvernehmen nach § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB jedoch nicht zu. Denn mit der (Nicht-)Erteilung des Einvernehmens im Baugenehmigungsverfahren regelt die Gemeinde nicht selbst die Rechtsbeziehungen zum Betroffenen bzw. hinsichtlich einer Sache. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut von § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB, wonach über die Zulässigkeit von Vorhaben nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB im bauaufsichtlichen Verfahren „von der Baugenehmigungsbehörde im Einvernehmen mit der Gemeinde entschieden“ wird. Hiernach trifft also nicht die Gemeinde, sondern vielmehr die Baugenehmigungsbehörde die Entscheidung, ob das Vorhaben mit dem geltenden öffentlichen Recht übereinstimmt oder nicht. Die Gemeinde wirkt lediglich verwaltungsintern, nämlich im Baugenehmigungsverfahren, mit. Äußert folglich erst die das Baugenehmigungsverfahren abschließende Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde Rechtswirkungen gegenüber dem Bauwilligen, so fehlt es dem gemeindlichen Einvernehmen nach § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB an der für einen Verwaltungsakt konstitutiven unmittelbaren Außenwirkung. Eine Klage des L nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO, gerichtet auf Verpflichtung der G zur Erteilung des Einvernehmens, wäre also nicht statthaft.
Hinweis
Im vorgenannten Beispielsfall wäre auch eine allgemeine Leistungsklage von L gegen G, gerichtet auf Erteilung des Einvernehmens nach § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB, mangels Klagebefugnis/Rechtsschutzbedürfnis bzw. wegen § 44a VwGO (str.) unzulässig. Vielmehr müsste L Verpflichtungsklage gegen B auf Erteilung der Baugenehmigung erheben. Hierbei prüft das Verwaltungsgericht inzidenter, ob die Verweigerung des Einvernehmens durch G nach § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB rechtmäßig war. Ist dies nicht der Fall, so verurteilt das Gericht B zur Erteilung der Baugenehmigung. Das fehlende gemeindliche Einvernehmenwird durchdas Urteil ersetzt. Gem. § 36 Abs. 2 S. 3 BauGB kann ein rechtswidrig versagtes Einvernehmen der Gemeinde auch schon im Genehmigungsverfahren durch die zuständige Landesbehörde ersetzt werden.
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„Lebensgefahr im Sauerland“
Auf dem 23 Meter langen und 7 Meter breiten, wegen seiner zahlreichen Felszerklüftungen sowie besonders starken Strömung als „Teufelsrohr“ bekannten Teilabschnitt eines Wildflusses im Sauerland ist es in der Vergangenheit vermehrt zu tödlichen Unfällen insbesondere von weniger erfahrenen Kanuten gekommen. Daher erließ die zuständige nordrhein-westfälische Behörde am 19.5.2017 eine „Anordnung“, die das Befahren dieses Flusses im Bereich des „Teufelsrohrs“ mit Wasserfahrzeugen jeglicher Art („Gemeingebrauch“) vorbehaltlich der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung im Einzelfall untersagt. Auf eine Rechtsbehelfsmöglichkeit wurde in der ordnungsgemäßen Veröffentlichung hingewiesen.
Kanut K, der als solcher bereits in mehr als 3000 Stunden Wildwasserfahrten u.a. in Neuseeland, den USA und Großbritannien unternommen hat, betätigt sich nach Feierabend und an den Wochenenden auf dem o.g. Wildfluss. Ohne den Wellenritt im „Teufelsrohr“ hält K eine Kanufahrt dort jedoch für uninteressant. Deshalb beantragte er am 19.8.2017 eine Ausnahmegenehmigung, welche ihm aufgrund seiner Erfahrung auch erteilt wurde.
Trotz der Anordnung vom 19.5.2017 ist die Zahl der Todesfälle im Bereich des „Teufelsrohrs“ allerdings nicht zurückgegangen, weshalb die zuständige Behörde durch „Änderung und Neufassung der Anordnung vom 19.5.2017“ den Bereich des Verbots auf 10 Meter vor dem „Teufelsrohr“ erweiterte. Mit der Einrichtung dieser „Sicherheitszone“ soll den ungeübten und damit besonders gefährdeten Kanuten mehr Zeit zum sicheren Anlegen am Ufer verschafft werden.
Gegen diese ebenfalls ordnungsgemäß und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung veröffentlichte „Anordnung“ vom 21.3.2019 erhebt K nunmehr fristgerecht Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht. Ist die Klage zulässig?
Bearbeitervermerk: Es ist davon auszugehen, dass in Bezug auf den vorliegenden Fall weder das Landes- noch das Bundes- oder das EU-Recht die Durchführung eines Vorverfahrens vorschreibt. § 19 Abs. 1 S. 1 LWG NRW lautet: „Jede Person darf natürliche oberirdische Gewässer zum […] Befahren mit kleinen Fahrzeugen ohne eigene Triebkraft benutzen […]“.
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Die Klage ist zulässig, wenn die Sachentscheidungsvorrausetzungen der §§ 40 ff. VwGO vorliegen.[147]
I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs
In Ermangelung einer aufdrängenden Sonderzuweisung könnte der Verwaltungsrechtsweg hier gem. § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet sein. Die danach erforderliche öffentlich-rechtliche Streitigkeit liegt dann vor, wenn die streitentscheidende Norm dem öffentlichen Recht angehört. Das ist der Fall, wenn durch diese ausschließlich ein Träger hoheitlicher Gewalt berechtigt oder verpflichtet wird (modifizierte Subjekts- bzw. Sonderrechtstheorie), was wiederum dann zu bejahen ist, wenn sich die Parteien in einem hoheitlichen Über- und Unterordnungsverhältnis namentlich im Bereich der klassischen Eingriffsverwaltung gegenüberstehen.[148] Hier hat die Behörde durch Anordnung vom 21.3.2019 ein Verbot erlassen, welches das Befahren des Flusses 10 Meter vor dem „Teufelsrohr“ untersagt. Somit handelt es sich bei der Anordnung um einen typischen Fall obrigkeitlichen Handelns auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr, dessen Normen ausschließlich Träger hoheitlicher Gewalt berechtigen, vgl. § 1 Abs. 2 OBG NW. Folglich liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vor. Diese ist ebenfalls nichtverfassungsrechtlicher Art, so dass mangels abdrängender Sonderzuweisung der Verwaltungsrechtsweg hier gem. § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet ist.
Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Begehren des Klägers, vgl. § 88 VwGO. Vorliegend wendet sich K gegen die Anordnung vom 21.3.2019 und verfolgt vor dem Verwaltungsgericht das Ziel, das Verbot, in der „Sicherheitszone“ 10 Meter vor dem „Teufelsrohr“ nicht mit seinem Kanu fahren zu dürfen, aufheben zu lassen.
Demnach kommt hier als statthafte Klageart die Anfechtungsklage gem. § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO in Betracht. Dann müsste es sich bei der Anordnung vom 21.3.2019 um einen Verwaltungsakt i.S.v. § 35 VwVfG(NRW)[149], d.h. eine hoheitliche Maßnahme einer Behörde zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen, handeln.
Bedenken am Vorliegen dieser Merkmale bestehen hier allein im Hinblick auf das Kriterium „Einzelfall“. Denn die Behörde ist vorliegend gerade nicht „zur Regelung eines Einzelfalls“ im Sinne des Erlasses einer individuellen Maßnahme tätig geworden, sondern wollte vielmehr allen Wasserfahrzeugführern das Befahren des Flusses in der „Sicherheitszone“ verbieten (generelle Regelung). Daher kann hier ein Verwaltungsakt allenfalls in Form einer den Gemeingebrauch des § 19 Abs. 1 S. 1 LWG einschränkenden benutzungsregelnden Allgemeinverfügung nach § 35 S. 2 Var. 3 VwVfG(NRW) vorliegen. Andererseits könnte es sich in Anbetracht der generellen Regelung der Anordnung allerdings auch um eine ordnungsbehördliche (Rechts-)Verordnung handeln. Gegen diese besteht in Nordrhein-Westfalen gem. § 109a JustG NRW i.V.m. § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO Rechtsschutz, sofern sie – wie hier – ab dem 1.1.2019 bekannt gemacht worden ist, siehe § 133 Abs. 3 S. 2 JustG NRW.
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