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Die Aufgaben der Rechtsvergleichung im Rahmen des europäischen öffentlichen Rechts sind komplex, sicher aber brauchen sie als Grundlage verlässliche Texte über die Grundlagen und Strukturen der diversen Gerichte. Die Beiträge stellen ihren Gegenstand zunächst in einem historischen Zugriff vor. Ein erster Abschnitt beschäftigt sich mit der Genese und Entwicklung der maßgeblichen Gerichte. Zur Sprache kommen Vorgängerinstitutionen, historischer Kontext der Einrichtung, Einflüsse von außen, bei jüngeren Institutionen gerade auch der europäische Kontext, wesentliche Entwicklungslinien. Da Autorität nicht nur gegeben, sondern immer auch erkämpft wird, gilt das Interesse auch prägenden Krisen und Konflikten.
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Der zweite Abschnitt präsentiert das aktuelle rechtliche Setting der Gerichte. Zunächst wird die maßgebliche Institution vorgestellt. Es geht insbesondere um die Zahl der Richter und die Entscheidungsformationen. Die Beiträge informieren weiter über die Richter, ihre Legitimation, also insbesondere die Verfahren der Richterwahl, sowie typische Karrierewege zum Gericht, ob also nur Berufsrichter oder auch Personen mit einem anderen professionellen Hintergrund die Richterbank besetzen. Darüber hinaus kommen Mechanismen der Sicherung der Unabhängigkeit zur Sprache.
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Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Darstellung der Verfahren. Es geht um das interne Verfahren, also die Auswahl von Berichterstattern, Verfahren der Entscheidungsfindung, Mehrheitserfordernisse, die Möglichkeit von Sondervoten sowie die Rolle von Mitarbeitern. Ferner kommen die einzelnen Verfahrensarten zu Sprache, wo sich eine bemerkenswerte Bandbreite zeigt: Organstreitverfahren, abstrakte Normenkontrolle, Verfassungsbeschwerde, Urteilsverfassungsbeschwerde, Parteiverbote, Wahlgerichtsbarkeit, konkrete Normenkontrolle. Abschließend geht es in diesem Abschnitt um das, was letztlich studiert und rezipiert wird: d ie eigentliche Entscheidung. Zur Sprache kommen unter anderem die Entscheidungsarten: Ob ein Gericht nur feststellen oder auch aufheben, ja vielleicht sogar Maßnahmen anordnen kann. Es wird gezeigt, dass viele Gerichte mit der verfassungskonformen Interpretation operieren. Auch die Begründungsarten, die Rolle der Rechtsvergleichung und Publikationspraxis kommen zu Wort.
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Der dritte Abschnitt befasst sich mit Rollen und Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Es geht dabei insbesondere um das Verhältnis zu den politischen Staatsorganen aber auch um die Stellung in der Gerichtsbarkeit. Hier gibt es wieder eine große Bandbreite, sei es bei der Abgrenzung der Zuständigkeiten, der genauen Zusammenarbeit und vor allem der Kontrolle der (Fach-)Gerichtsbarkeit. Zur Sprache kommen auch das Selbstverständnis sowie Deutungsangebote in der Verfassungsdogmatik und -theorie.
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Der letzte Abschnitt gilt der Evaluierung. Dabei geht es um Aspekte wie die öffentliche Wahrnehmung des Gerichts, Medienberichterstattung, aber auch die Folgebereitschaft der Adressaten sowie das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und (Staats)Rechtswissenschaft. Abschließend sind die großen Themen Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik sowie ihre Rolle bei der Fortentwicklung des europäischen öffentlichen Rechts aufgerufen.
[1]
Heinrich Triepel , Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 2; Mauro Cappelletti , Il controllo giudiziario delle leggi nel diritto comparato, 1968; Pedro Cruz Villalón , La formación del sistema europeo de control de constitucionalidad (1918–1939), 1987; nach unserem Verständnis zählen sog. auslandsrechtskundliche Werke zur Rechtsvergleichung mit einer nicht selten außerordentlichen Bedeutung für das öffentliche Recht insgesamt, etwa Édouard Lambert , Le gouvernement des juges et la lutte contre la législation sociale aux États-Unis, 1921.
[2]
Vgl. nur Max-Planck-Institut (Hg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart, 1962; Jörg Mössner , Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), S. 193.
[3]
Vgl. nur Horst Ehmke , Wirtschaft und Verfassung. Die Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court zur Wirtschaftsregulierung, 1961; Ulrich R. Haltern , Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen, 1998; Marcel Kau , United States Supreme Court und Bundesverfassungsgericht, 2007.
[4]
Sabino Cassese , Fine della solitudine delle corti costituzionali, ovvero il dilemma del porcospino, in: Accademia delle Scienze di Torino (Hg.), Inaugurazione del 232. Anno accademico dell’Accademia delle Scienze di Torino, 2014, S. 20.
[5]
Vgl. die Beiträge auf der 3. Weltkonferenz der Verfassungsgerichte in Seoul 2014 http://www.venice.coe.int/WCCJ/Seoul/docs/WCCJ_Programme-e.htm.
[6]
Vgl. nur Tom Ginsburg , Judicial Review in New Democracies: Constitutional Courts in Asia, 2003; Ran Hirschl , Towards Juristocracy. The Origins and Consequences of the New Constitutionalism, 2004; Samuel Issacharoff , Fragile democracies. Contested Power in the Era of Constitutional Courts, 2015; vgl. aber auch Marina Calamo Speccia (Hg.), Le Corti Costituzionali. Composizione, Indipendenza, Legittimazione, 2011; Lucio Pegoraro , Giustizia costituzionale comparata. Dai modelli ai sistemi, 2015; Michel Fromont , Justice constitutionnelle comparée, 2013.
[7]
Zum lateinamerikanischen Pfad vgl. die Beiträge in dem Schwerpunktheft der Zeitschrift Rechtsgeschichte 16 (2010), dazu Thomas Duve , Verfassung und Verfassungsrecht in Lateinamerika im Licht des bicentenario. Einleitung zur Debatte, Rechtsgeschichte 16 (2010), S. 16.
[8]
Vgl. etwa das Instituto Iberoamericano de Derecho Constitucional , www.juridicas.unam.mx/iidc/.
[9]
Eine Vorstellung in Armin von Bogdandy , Ius Constitutionale Commune en América Latina. Beobachtungen zu einem transformatorischen Ansatz demokratischer Verfassungsstaatlichkeit, ZaöRV 75 (2015) S. 345.
[10]
Rainer Wahl , Die Rechtsbildung in Europa als Entwicklungslabor, JZ 2012, S. 862ff. Zur schwierigen Frage, was ein Ensemble von Normen zu einer Rechtsordnung macht, Dana Burchhardt , Die Rangfrage im europäischen Normenverbund, 2015, S. 15ff., 220ff., 242f.
[11]
Vgl. v.a. Art. 3 Abs. 2 EUV; der Raumbegriff ist aber auch in wichtigen weiteren Bestimmungen zentral, vgl. Art. 26 Abs. 2 und 179 AEUV.
[12]
Mario P. Chiti , Diritto amministrativo europeo, 2011; Peter M. Huber , IPE V, § 73.
[13]
Luis Díez-Picazo y Ponce de León/Antonio Manuel Morales Moreno/Encarna Roca Trias , Los principios del derecho europeo de contratos, 2002; Reinhard Zimmermann , Die Europäisierung des Privatrechts und die Rechtsvergleichung, 2006, S. 46ff.
[14]
Nina Dethloff , Familien- und Erbrecht zwischen nationaler Rechtskultur, Vergemeinschaftung und Internationalität, ZEuP 2009, S. 992; Silvia Masucci , La famiglia e la successione ereditaria, in: Lipari (Hg.), Trattato di diritto privato europeo, 2003, S. 413.
[15]
Burkhard Hess , Europäisches Zivilprozessrecht, 2010; Fernando Gascón Inchausti/Andrés de la Oliva Santos , Derecho procesal civil europeo, competencia judicial internacional, reconocimiento y ejecución de resoluciones extranjeras en la Unión Europea, 2011.
[16]
Martin Heidenreich/Jonathan Zeitlin (Hg.) Changing European Employment and Welfare Regimes: The Influence of the Open Method of Coordination on National Reforms, 2009; Ulrich Becker/Winfried Boecken/Angelika Nußberger/Heinz-Dietrich Steinmeyer (Hg.), Reformen des deutschen Sozial- und Arbeitsrechts im Lichte supra- und internationaler Vorgaben, 2005.
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