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So großartig dieses Modell ist, so wenig mag es die Vielfalt der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa abzubilden. Es eignet sich daher weder als Grundlage für den innereuropäischen Vergleich der Verfassungsgerichtsbarkeit, noch kann sich die Ausbildung des Verfassungsgerichtsverbunds alleine auf dieses Modell stützen. Vielmehr sollte man sich für die weitere Gestaltung des europäischen öffentlichen Rechts von der Idee eines europäischen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit geradezu verabschieden, auch wenn Konvergenztendenzen vor allem im europaverfassungsrechtlichen Selbstverständnis unübersehbar sind. Genauer: Wir behaupten nicht die Existenz eines europäischen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit. Wie wir vielmehr anhand von 13 Rechtsordnungen zeigen, gibt es kaum einen Modus des Schutzes liberaldemokratischer Verfasstheit, der in Europa fehlt. Es wird daher weder ein analytisches Modell gezeichnet, das die nationalen Mechanismen erkenntnisstiftend zusammenfasst, noch gar ein normatives, das eine bestimmte Ausprägung in Ablehnung anderer empfiehlt.[72] Dies entspricht einer klaren Wertung der Vertragsgeber: Wenn die mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen gleichwertig sind, so Art. 4 Abs. 2 EUV, dann umschließt das die Vielfalt der Mechanismen, welche die Normativität der Verfassung schützen. Dies bedeutet notwendig die Akzeptanz von großen Divergenzen.
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Immerhin 9 der 28 EU-Mitgliedstaaten, Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland, Irland, die Niederlande, Schweden, das Vereinigte Königreich und Zypern, verfügen über kein spezielles Verfassungsgericht. Mit dem Vereinigten Königreich verzeichnet der europäische Rechtsraum eine Rechtsordnung, deren Grundordnung zuvörderst in Konventionen und nicht in höherrangigem Recht niedergelegt ist, so dass schon Gerichten jedenfalls bis in die jüngste Vergangenheit nur eine minimale verfassungsgerichtliche Rolle zukommen konnte.[73] Europa besitzt somit nicht nur kein einheitliches Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern sogar die prominenteste Ausnahme zur globalen Praxis freiheitlicher Demokratien. Aber auch die rigiden Verfassungen ordnen keineswegs europaweit eine gerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers an. Die finnische Verfassung lässt die Gesetze in erster Linie durch einen parlamentarischen Ausschuss und nicht durch Gerichte kontrollieren.[74] Die niederländische Verfassung verbietet den Gerichten ausdrücklich, Gesetze wegen eines Konflikts mit der Verfassung zu verwerfen.[75] Gleiches besagt, für Bundesgesetze, die Schweizerische Bundesverfassung.[76] Diese Regelungen verstehen sich nicht als defizitäre Reminiszenzen früherer Zeiten, sondern waren Gegenstand ausführlicher verfassungspolitischer Diskussionen in der Hochzeit des Konstitutionalismus, dem ausgehenden 20. Jahrhundert.[77]
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Doch auch innerhalb der Gruppe der spezifischen Verfassungsgerichte gibt es eine so große Vielfalt, dass die Annahme eines einzigen Modells für eine mit der gebotenen Differenziertheit arbeitende europäische Rechtsvergleichung problematisch erscheint. So ist die Karlsruher Kompetenzfülle und Wirkungsbreite mit Kelsens Kernidee unvereinbar, die das Verfassungsgericht auf die Kontrolle des Gesetzgebers ausrichtet. Zwar könnte man das Bundesverfassungsgericht seinerseits als das „europäische Modell“ begreifen.[78] Doch auch eine solche Heraushebung vernachlässigt, analytisch betrachtet, die Vielfalt und die Varianten der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa, und normativ das Prinzip der prinzipiellen Gleichheit der Staaten und ihrer jeweiligen Verfassungsidentität. Zwar haben sich die meisten neueren Prozesse der Verfassunggebung oder Verfassungsreform intensiv mit „Karlsruhe“ beschäftigt und auch teilweise rezipiert. Aber es gibt es eben auch Fälle, in denen die Rezeption bewusst nicht stattfand. In Finnland etwa war die ausgreifende Praxis des Bundesverfassungsgerichts ein wichtiges Argument, warum man eben keine spezifische Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführt hat.[79]
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Die europäische Ebene selbst präsentiert ebenfalls kein einheitliches Modell. Sie reproduziert vielmehr die Differenz zwischen einem zur Letztentscheidung berufenen Gericht, das über verfassungsrechtliche Fragen entscheidet, weil es nun mal für alle Rechtsfragen zuständig ist, und einer fokussierten Grundrechtsgerichtsbarkeit, die ein spezialisiertes Organ wahrnimmt (EGMR). Die in dieser Aufstellung strukturell angelegten Konflikte[80] lassen es als unwahrscheinlich erscheinen, dass die europäische Ebene in Zukunft ein „europäisches Modell“ ausbildet.
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Die Gemeinsamkeit zwischen den diversen mit verfassungsgerichtlichen Aufgaben betrauten Gerichten ergibt sich nicht aus ihrer Struktur, sondern aus den gemeinsamen Anforderungen und Herausforderungen, die aus der Mitgliedschaft in den beiden Organisationen, in der EU wie im Europarat, entspringen.[81] Materiell bildet die Rechtsprechung des EGMR einen autoritativen Bezugsrahmen für das Verständnis vieler Grundrechte, des häufigsten verfassungsgerichtlichen Maßstabs; daraus folgt eine gewisse Harmonisierung der Rechtsprechung der diversen nationalen Gerichte.[82] Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich sogar die Kompetenz und Pflicht aller staatlichen Gerichte, parlamentarischen Gesetzen den Gehorsam zu verweigern, wenn sie Unionsrecht verletzen. Das gilt auch für Großbritannien, Schweden oder Finnland. Die Gerichte verfügen so über die wohl charakteristischste verfassungsgerichtliche Befugnis, selbst wenn sie nur eine konkrete Nichtanwendung, nicht aber ein abstraktes Vernichten ermöglicht.[83] Die Maßgeblichkeit des „europäischen Modells“ lässt sich damit gleichwohl nicht begründen, denn die Zentralisierung dieser Verwerfungskompetenz gilt ja gemeinhin als Merkmal des sog. „europäischen Modells“, im Gegensatz zum dezentralen Modell, das aus den Vereinigten Staaten stammt.[84] Die Europäische Union, der Europarat und die EMRK verlangen von ihren Mitgliedstaaten die Gewährleistung einer Reihe justizieller Garantien, insbesondere den Schutz eines breiten Spektrums individueller Rechte gegenüber allen Formen öffentlicher Gewalt einschließlich des Gesetzgebers, aber eben nicht die exklusive Kontrolle parlamentarischer Gesetze durch ein hierzu spezifisch berufenes Gericht.
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Wir bestreiten nicht, dass es Fragestellungen gibt, die legitim mit einem „europäischen Modell“ der Verfassungsgerichtsbarkeit arbeiten. Wenn man globale Vergleichung betreiben, historische Linien ziehen, politiktheoretische Thesen über institutionelle Dynamiken treffen oder rechtspolitische Forderungen formulieren möchte, ist es hilfreich, bestimmte gemeinsame Merkmale zu identifizieren, für welche der österreichische Verfassungsgerichtshof, das Bundesverfassungsgericht oder der Conseil Constitutionel exemplarisch stehen.[85] Dem anstehenden innereuropäischen Vergleich im Lichte des Rechtsraums und europäischen öffentlichen Rechts stehen Ideen eines einheitlichen „europäischen Modells“ aber eher im Wege.[86]
§ 95 Verfassungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum› III. Eckpunkte innereuropäischer Verfassungsgerichtsvergleichung › 2. Identifikation des Forschungsgegenstands Verfassungsgerichtsbarkeit
2. Identifikation des Forschungsgegenstands Verfassungsgerichtsbarkeit
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Gegenstand dieses Bandes ist die Verfassungsgerichtsbarkeit, die er ungeachtet der zuvor beschriebenen Schwierigkeiten begrifflich identifizieren muss. Ein Begriff impliziert jedoch kein Modell. Doch auch bei der Begriffsbildung ist vorsichtig vorzugehen. Wie die Beiträge dieses Bandes zeigen, lagern im Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit zentrale und bisweilen inkommensurable konstitutionelle Erfahrungen des jeweiligen Mitgliedstaates.[87]
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Ein Begriff für den innereuropäischen Vergleich von Verfassungsgerichtsbarkeit muss verarbeiten, dass drei ganz unterschiedliche Entwicklungslinien verfassungsgerichtliche Institutionen hervorgebracht haben und weiter prägen, die allerdings in keinem Exklusivverhältnis stehen.[88] Eine Linie ergibt sich aus der föderalen Spannungslage, für die in diesem Band vor allem Österreich, die Schweiz und Belgien stehen.[89] Die zweite Linie erklärt sich aus der Reaktion auf autoritäre Herrschaft und die Unsicherheiten demokratischen Regierens. Für sie stehen in diesem Band die Verfassungsgerichte Deutschlands, Italiens, Polens, Portugals, Spaniens und Ungarns. Die dritte Linie ist europäischen Entwicklungen zu verdanken, dem Erstarken der Menschenrechte im Rahmen der EMRK und der europäischen Integration. So werden in den Niederlanden alle Gerichte als europäische Verfassungsgerichte begriffen.[90] Diesen Entwicklungen sind auch die Innovationen in Finnland,[91] die gar nicht mehr so zarten Ansätze verfassungsgerichtlicher Funktionen im Vereinigen Königreich[92] sowie die komplizierte Dynamik in Frankreich zu verdanken.[93]
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