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Insgesamt steht daher die Verfassung der Relativität der Rechtsbegriffe nicht generell entgegen.
(cc) Tendenzen hinsichtlich einer einheitlichen Begriffsverwendung
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Nach dem Gesagten besteht eine Vermutung für die Relativität der Rechtsbegriffe;[327] diese ist jedoch im Einzelfall widerleglich. Auf diese Erkenntnis aufbauend bieten sich mehrere gedankliche Wege an, die tendenziell von einer vollständigen Relativität der Rechtsbegriffe hin zu einer zumindest teilweise vorhandenen begrifflichen Akzessorietät streben:
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Zum einen darf das Prinzip der Rechtssicherheit nicht aus den Augen verloren werden. Ein sich stark unterscheidendes Verständnis ein und desselben Begriffs in unterschiedlichen Teilen der Rechtsordnung beeinträchtigt – wenn auch nicht in verfassungswidriger Art und Weise – die Vorhersehbarkeit der Rechtspraxis. Der Normadressat schöpft überdies seine Rechtskenntnis regelmäßig nicht aus dem Gesetz selbst, sondern aus seiner Umsetzung in Exekutive und Judikative.[328] Hier kommt er detaillierter mit der Ausformung einzelner Rechtsbegriffe in Berührung. Dieses ihm so mitgeteilte Begriffsverständnis wird er in sein Normbewusstsein aufnehmen und auch seinem künftigen Verhalten zugrunde legen.
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Zum anderen ist Folgendes zu berücksichtigen: Auch wenn sich alltäglicher und juristischer Sprachgebrauch nicht zwangsläufig decken, ist regelmäßig – zumindest im Kern[329] – eine gewisse Vorprägung der Begriffe nicht zu leugnen. Der Gesetzgeber erfindet zumeist gerade nicht neue Begrifflichkeiten, sondern schöpft auch insoweit aus der Lebenswirklichkeit, die ihn zum Erlass einer bestimmten Norm veranlasst.[330] Dementsprechend lässt sich aus den historischen Umständen des Erlasses einer Norm und einem zu dieser Zeit alltäglichen Begriffsverständnis jedenfalls auf die vom Normgeber beabsichtigte Bedeutung des Begriffs schließen. Stammen aber mehrere Normen aus derselben Zeit oder sogar aus demselben Gesetzgebungsverfahren, liegt dementsprechend die Vermutung nahe, dass der Normgeber gleichlautenden Begriffen dieselbe Bedeutung beigemessen wissen wollte. Auf diese Weise ergibt sich zwar keine unmittelbare Beziehung zwischen gleichlautenden Begriffen verschiedener Normen; deren Bedeutungen lassen sich aber auf dieselbe Quelle zurückführen, wodurch eine Verbindung zwischen ihnen geschaffen wird.
(dd) Legaldefinitionen und ihre Rolle im Rechtsgefüge
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Durchbrochen werden kann daher die Relativität der Rechtsbegriffe nur durch das Recht selbst.[331] Dies geschieht durch sog. Legaldefinitionen. Hierbei wird ein Begriff gesetzlich definiert, der an anderer Stelle im Normgefüge Verwendung findet.[332] Liegt eine Legaldefinition vor, ist diese grundsätzlich für den Rechtsanwender verbindlich.[333] Eine Missachtung verletzt den rechtsstaatlichen Vorrang des Gesetzes und das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG. Das aus der Legaldefinition hervorgehende Begriffsverständnis gilt daher für alle Normen, in denen der entsprechende Rechtsbegriff auftaucht und ist damit nicht mehr relativ zum jeweiligen Normkontext.[334] Vielmehr sind sämtliche Normkontexte, in denen auf die Legaldefinition Bezug genommen wird, zu deren Auslegung heranzuziehen.[335]
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Die Reichweite einer Legaldefinition kann allerdings beschränkt sein. In Betracht kommen drei mögliche Begrenzungen der einheitsstiftenden Wirkung:
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Zum einen kann die Anwendbarkeit einer Legaldefinition unter einer „aufschiebenden Bedingung“ stehen. Dies ist etwa der Fall bei § 11 Abs. 3 StGB, der die Erweiterung des Verständnisses des Schriftenbegriffs auf Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen davon abhängig macht, dass die jeweilige Vorschrift auf diesen Absatz verweist.
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Existiert keine solche Bedingung oder ist diese erfüllt, kann die Anwendbarkeit einer Legaldefinition auch im Nachhinein noch ausgeschlossen werden. Dies kann zum einen gleichsam „von innen“ heraus geschehen, indem die Legaldefinition ihren Anwendungsbereich selbst beschränkt. Regelmäßig geschieht dies mit dem Zusatz „im Sinne dieses Gesetzes“ o.Ä. (vgl. z.B. § 3 Abs. 1 KrWG). In diesem Fall kann die Auslegung desselben Begriffs in einem anderen Gesetz (z.B. § 326 StGB)[336] grundsätzlich autonom erfolgen, ohne dass der Rechtsanwender sich damit dem Vorwurf aussetzt, sich über das Recht zu erheben oder willkürlich zu handeln. Das schließt allerdings nicht aus, den Inhalt der Legaldefinition zur Auslegung des Begriffs heranzuziehen.[337]
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Zudem kann eine Legaldefinition „von außen“ verdrängt werden, indem ein bestimmtes Gesetz oder Teilrechtsgebiet seinerseits eine speziellere Legaldefinition vorhält.[338] Dies geschieht etwa in § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB, wo gegenüber dem allgemeinen Rechtswidrigkeitsbegriff ein spezieller Sprachgebrauch nur für das Strafgesetzbuch (und grds. auch das Nebenstrafrecht,[339] vgl. Art. 1 EGStGB) geprägt wird.
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Über diese Begrenzungen hinaus gibt es hingegen keinen Grund, die Geltung einer Legaldefinition für die gesamte Rechtsordnung anzuzweifeln und sie nur auf das Gesetz, das sie enthält, oder ein bestimmtes Teilrechtsgebiet zu beschränken.[340] § 12 Abs. 1 StGB etwa weist keine der beiden erstgenannten Beschränkungen auf. Die darin enthaltende Definition des Begriffs „Verbrechen“ ist demnach – soweit nichts Spezielleres vorgeschrieben ist (wie z.B. im Kontext des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“) – der gesamten Rechtsordnung zugrunde zu legen. Sie findet etwa Anwendung in § 74 Abs. 1 S. 1 GVG[341], § 10 Abs. 1 Nr. 1 lit. a UZwG[342] und § 52 Abs. 1 SGB V[343].
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Schließlich verbleibt die Frage, ob einer einheitlichen Rechtsordnung auch einheitliche Wertungen zugrunde liegen (müssen), also auch über die Freiheit von „echten“ Widersprüchen hinaus eine innere Konsequenz der Rechtssätze besteht. So hat etwa das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, „daß das Verfassungsrecht nicht nur aus den einzelnen Sätzen der geschriebenen Verfassung besteht, sondern auch aus gewissen sie verbindenden, innerlich zusammenhaltenden allgemeinen Grundsätzen und Leitideen, die der Verfassungsgesetzgeber, weil sie das vorverfassungsmäßige Gesamtbild geprägt haben, von dem er ausgegangen ist, nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat.“[344] Dieser Gedanke könnte sich auch auf die Gesamtrechtsordnung erstrecken lassen.
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Eine sorgfältige Differenzierung der hier potenziell auftretenden Widersprüche hat Engisch herausgearbeitet. Er unterscheidet hierbei Wertungswidersprüche, teleologische Widersprüche und Prinzipienwidersprüche, wobei die Übergänge zwischen ihnen teilweise fließend sind.[345]
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Als Beispiele für Wertungswidersprüchenennt Engisch etwa Fälle, in denen ein schwereres Delikt früher verjährt als ein leichteres oder dass das Strafminimum bei früheren Kindsmordtatbestand gem. § 217 StGB a.F. höher lag als beim normalen Totschlag, demgegenüber der Kindsmord eigentlich eine Privilegierung darstellen sollte.[346] Diese Fälle sind von den „echten Normwidersprüchen“ zu unterscheiden,[347] bei denen der Text verschiedener Normen sich gar nicht vereinbaren lässt, auch wenn eine Abgrenzung im Einzelfall schwierig sein kann.[348] Vielmehr sind diese Konstellationen lediglich „verwirrend für das Rechtsgefühl“[349]. Das liegt daran, dass der Gesetzgeber den Zweck der jeweiligen Regelung nicht deutlich gemacht hat.[350] Soweit aber Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzt wird,[351] müssen diese Inkonsequenzen bestehen bleiben; der Rechtsanwender darf sich diesbezüglich nicht über den Gesetzgeber erheben.[352] Im Strafrecht hat allerdings das Gesetzlichkeitsprinzip Vorrang vor dem allgemeinen Gleichheitssatz, weshalb insoweit etwa eine Harmonisierung von Strafrahmen (zu Lasten des Betroffenen) nicht verfassungsrechtlich geboten, sondern gerade untersagt ist.[353]
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