Inhaltsverzeichnis
Wer bin ich?
Die Stadt aus Gold
Sargento Pippino
Das letzte Gefecht
Was das Herz begehrt
„Gestatten, wir sind die Allmeyers“
Leviathan
Und sie sangen den Leib, den elektrischen
Quo vadis?
Recursus
Sic semper tyrannis
Schlangengrube
Bin ich tot?
So viele Fragen …
Kyrie eleison …
Epilog
Die seltsame Geschichte des Alejandro Ruiz
von Stan Wagner
Diese Geschichte ist bereits unter dem Titel „Der Tag der Toten“ erschienen.
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2. Auflage in deutscher Sprache Oktober 2017
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2017 bei Zdenek Wagner, Pseudonym Stan Wagner, Welfenallee 3, 13465 Berlin, sidoniusfree@gmx.de
Umschlaggestaltung und Illustrationen: Zdenek Wagner
Lizenzen für Bildbestandteile wurden vom Verfasser ordnungsgemäß erworben und sind somit frei von Ansprüchen Dritter.
Korrektorat: Stefanie Proske
Satz: Corinna Rindlisbacher, www.ebokks.de
Als du auf die Welt kamst, weintest du und um dich herum freuten sich alle.
Lebe so, dass du die Welt lachend verlässt, während um dich herum alle weinen.
Sprichwort
Sein plötzliches Erwachen war weder dem lauten Treiben, noch dem Gesang, oder den Gebeten geschuldet – und doch musste sich unversehens etwas gerührt haben, in seiner überschaubaren kleinen Welt, die bis dahin weder einen Anfang, noch ein Gefälle kannte. Etwas, das ihn dazu brachte Fragen zu stellen: Wo bin ich? Wie bin ich hergekommen? Wie lange liege ich bereits hier, nackt, inmitten dieser unheimlichen Schattenwesen, die mich aus leeren, dunklen Augenhöhlen anstarren, und lausche ihren stummen Schreien? Wer mögen sie wohl gewesen sein, in ihrer Menschenzeit, bevor ihnen der Tod mit seinen kalten Zähnen das warme Fleisch von den Knochen nagte?
Wer bin ich?
Was bin ich?
Auf das Wer hatte er keine Antwort, wohingegen dem Was einfach zu begegnen war. Ein einziger Blick auf das kümmerliche Etwas in seinem Schoß genügte.
Ich bin … nein … ich war ein Mann …
Um den Rest von ihm war es nicht besser bestellt. Seine spindeldürren Arme und Beine schienen nur noch aus mit Haut umhüllten Knochen zu bestehen. Brust und Bauch waren dermaßen eingefallen, dass er jede einzelne Rippe und jeden Wirbel unter der schmutzig gelben Haut erkennen konnte. Unterhalb des spitzen Kinns prangte ein monströser Adamsapfel, wohingegen er den Rest des Halses mühelos mit Daumen und Zeigefinger umfassen konnte. Jede noch so kleine Kopfbewegung erzeugte ein eigentümliches Rasselgeräusch, als säße statt eines Schädels eine Rumba-Kugel auf seinen hageren Schultern. Mühsam löste er die ledrige Zunge vom Gaumen und begann die wenigen noch verbliebenen Zähne zu zählen. Nach einem halben Dutzend war Schluss. Ein unbeschreibliches Grauen drohte ihn zu überwältigen. Er schluckte – und schrie vor Schmerz auf. Mund und Rachen waren eine einzige Waberlohe. Die Fragezeichen in seinem Kopf jagten einander wie tollwütige Hunde.
War er in der Hölle? Und wenn ja, wie war er gestorben und was war davor? Warum konnte er sich an nichts erinnern?
„Wo bin ich?“, krächzte er, um sich sogleich an die Kehle zu greifen, die erneut Feuer fing.
Wasser!
Das Wort verbiss sich wie ein hungriges Raubtier in sein Bewusstsein und machte ihn rasend. Er machte Anstalten sich aufzurichten, doch seine Beine versagten und er fiel wie eine herrenlose Marionette in sich zusammen. Der zweite Versuch endete mit einem fürchterlichen Schlag gegen die Schädeldecke.
Bis auf Weiteres werde ich es beim Kriechen belassen, beschloss er und ließ sich auf alle viere nieder. Nur, wohin sollte er sich wenden? Das schwache Zwielicht um ihn herum ließ kein lohnenswertes Ziel erkennen. Doch was war das? Musik und Wortfetzen drangen an sein Ohr. So schnell es der Untergrund zuließ, kroch er in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Je weiter er sich vorwärtsbewegte, umso breiter und höher wurde der Raum, bis er sich schließlich erheben und aufrecht stehen konnte. Nach einigen Metern erblickte er auf dem Boden ein fahles Licht, das durch ein vergittertes, knapp unterhalb der Decke angebrachtes Fenster fiel. Eine Weile sah er gebannt zu, wie es sich quälend langsam über den mit Knochen und Rattendreck übersäten Grund schleppte.
„Ich kenne dich … du bist … dich nennt man den Mond“, flüsterte er.
Für einen Augenblick hatte er sogar seinen Durst vergessen, der sich nun umso vehementer bemerkbar machte. Er trat vor das schmale Fenster, zog sich am Gitter hoch und blickte hinaus. Auf einem Sims darunter stand eine Schale mit Wasser, in der ein winziger Mond schwamm. Sein rechter Arm schoss durch die Gitterstäbe, doch um das Objekt seiner Begierde greifen zu können, fehlten ihm wenige Zentimeter. Verzweifelt packte er mit beiden Händen das kalte Metall, stemmte seine Füße gegen die Mauer und zog was die ausgemergelten Glieder hergaben. Ihm wurde schwarz vor Augen und er war drauf und dran loszulassen, als das mürbe gewordene Mauerwerk nachgab und er mit dem Rücken voran durch eine hölzerne Tür flog.
Nach einem ungelenken Purzelbaum und einem erneuten Schlag gegen den Kopf, fand er sich auf einem steinernen Absatz im Freien wieder, von dem aus eine Treppe nach oben führte. Mühsam rappelte er sich auf und torkelte die baufälligen Stufen hinauf. Ihm war schwindlig und seine Lunge pfiff wie ein löchriger Blasebalg, doch er hatte es geschafft. Er war zurück, in der Welt der Lebenden, wenn auch auf einem Friedhof, inmitten zahlloser Gräber, wie er nach einem Rundumblick feststellen musste. Auf einem Grabstein zu seiner Rechten widersetzte sich eine einsame Kerze beharrlich dem Diktat der späten Stunde. Ihr unstetes Licht leckte an einer großen, mit gelben und orangefarbenen Blumen gefüllten Vase. Mit einem brandigen Röcheln stürzte er sich drauf und leerte sie in einem Zug.
Dass er dabei einen Teil der Botanik mit verschluckte und das kostbare Nass seinen Leib auf verschlungenen Pfaden gleich wieder verließ, war ihm gänzlich entgangen.
Während sein Atem zusehends ruhiger wurde, rang sein hoffnungslos überforderter Verstand nach wie vor mit der kolossalen Unbegreiflichkeit seiner Lage. Dass er sich auf einem Friedhof befand, wusste er bereits, und dass es sich bei dem Schreckensort, dem zu entkommen ihm soeben gelungen war, allem Anschein nach um ein Massengrab handelte, in dem man die Gebeine der Ärmsten der Armen aufzubewahren pflegte, ebenfalls.
„Aber ich bin nicht tot! Ich lebe!“, protestierte er lauthals. „Wie in Gottes Namen bin ich nur hergekommen?“
Er blickte in das funkelnde Meer jenseits der Baumkronen, als könne er dort oben Antworten auf all seine Fragen finden. Doch die Nacht schwieg beharrlich. Eine ohnmächtige Wut stieg in ihm auf, angesichts dieser selbstgefälligen Ignoranz. Die einzigen, die ihn einer Antwort für würdig befanden, waren die unzähligen, wild durcheinander zirpenden Zikaden, deren Sprache er jedoch nicht verstand. Während er gegen seinen Zorn ankämpfte, verschwand der Mond hinter einer großen Wolke und so blieb ihm inmitten der undurchdringlichen Finsternis nichts anderes übrig, als auf der Stelle zu verharren und abzuwarten. Nicht lange, und seine miserable körperliche Verfassung und die kräftezehrende Flucht aus dem Beinhaus forderten ihren Tribut. Seine Fußsohlen brannten trotz des kühlen Untergrundes wie Feuer und in seinem Kopf drehte sich alles. Ein letztes Aufbäumen – dann glitt er bewusstlos zu Boden.
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