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Damit sei nicht verschwiegen, dass es nicht immer trivial ist, den Gegenstand der Rechtswidrigkeitsprüfung genau zu bestimmen. Geht es um ein menschliches Verhalten, kann es etwa darauf ankommen, welche Umstände des Verhaltens in die Betrachtung mit einzubeziehen sind. Schießt etwa eine Person in Notwehr auf eine andere, stellt sich die Frage, inwiefern zu berücksichtigen ist, ob diese Person die Waffe legal besitzt. Da die Benutzung der Waffe quasi eine speziellere Form des Besitzes darstellt, wird man insoweit nur auf den Schuss als Verhalten abstellen können mit der Folge, dass der Besitz der Waffe im Zeitpunkt der Abgabe des Schusses ebenfalls durch die Notwehr gerechtfertigt ist; im Übrigen ist der Zustand des illegalen Waffenbesitzes aber (auch) nach waffenrechtlichen Maßstäben zu beurteilen, der außerhalb des Schusses selbst wohl als rechtswidrig anzusehen sein wird.[307] Ebenso muss bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Teilnahme einer Person am Straßenverkehr mitberücksichtigt werden, ob diese eine Fahrerlaubnis besitzt, sie fahrtauglich ist, das Fahrzeug die straßenverkehrsrechtlichen Anforderungen erfüllt und ob ein Versicherungsschutz besteht.
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Nicht zu leugnen ist weiterhin, dass die Frage der Rechtswidrigkeit immer ausgehend von einem speziellen Tatbestand[308] gestellt wird. Das ändert aber nichts daran, dass die letztendliche Feststellung, ob der Gegenstand des Tatbestandes rechtmäßig oder rechtswidrig ist, vor dem Hintergrund der gesamten Rechtsordnung zu treffen ist. Der Tatbestand bestimmt die Fragestellung und ihren Gegenstand. Im Falle eines Straftatbestandes etwa bezeichnet er das Verhalten, das auf seine Rechtswidrigkeit untersucht werden soll. Zudem gibt der Tatbestand vor, wie weit die Wirkung der Rechtswidrigkeit reichen wird, wenn sie vor dem Hintergrund der Gesamtrechtsordnung bejaht wird. Die Rechtswidrigkeit eines straftatbestandsmäßigen Verhaltens etwa wirkt immer in Bezug auf die gesamte Gesellschaft, während eine schlichte Vertragsverletzung im Regelfall (es sei denn, die Rechtsordnung bekundet – wie z.B. im Falle des Betrugstatbestandes –, dass sie eine Vertragsverletzung zur öffentlichen Angelegenheit erhebt) nur inter partes als rechtswidriges Verhalten relevant wird. Zwar ist das betreffende Verhalten generell als rechtswidrig anzusehen; aufgrund der tatbestandlichen Begrenzung kann aber nur der betroffene Vertragspartner hieraus Rechte ableiten. Damit ist wieder der Punkt angesprochen, dass die einzelnen Rechtsgebiete regeln, welche Konsequenzen sie aus dem Rechtswidrigkeitsverdikt ziehen.
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Aufgrund dieser weitreichenden Funktionen des Tatbestandes ist auch nicht einzusehen, weshalb es einer spezifischen Strafrechtswidrigkeit bedürfen sollte. Die Abschichtung, wann Unrecht kriminalisiert werden sollte und wann nicht, kann ohne weiteres vom Tatbestand geleistet werden. Das Gesetz bietet auch keinerlei Anhaltspunkte für eine Unterscheidung der Rechtfertigungsgründe; weitere problematische Konstellationen können auf der Ebene der Schuldhaftigkeit befriedigend gelöst werden.[309]
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Hervorzuheben ist noch, dass diese Ausführungen sich auf die allgemeine Rechtswidrigkeitsfeststellung beziehen, die als Stufe der Straftatprüfung anerkannt ist.[310] Damit ist aufgrund der – sogleich noch näher zu behandelnden – Relativität der Rechtsbegriffe allerdings noch nicht ausgesagt, dass das Gesetz, wenn es den Begriff „rechtswidrig“ verwendet, auf diese Rechtswidrigkeitsfeststellung rekurriert.[311] So bringt etwa § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB zum Ausdruck, dass unter einer „rechtswidrigen Tat“ im Sinne des Strafgesetzbuchs nur solche rechtswidrigen Verhaltensweisen zu verstehen sind, die zudem einen Straftatbestand erfüllen.
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Als weitere mögliche Konsequenz einer einheitlichen Rechtsordnung kommt eine einheitliche Begriffsverwendung in Betracht.[312] Stellt die Rechtsordnung sich als einheitliches – wenn auch unvollkommen nach außen getragenes – Gedankengebilde einer rechtssetzenden Instanz dar, so liegt der Gedanke nahe, dass ein und derselbe Begriff in verschiedenen Normen der Rechtsordnung immer dieselbe Bedeutung aufweist und insbesondere auch Legaldefinitionen sich so übertragen lassen.
(aa) Die grundsätzliche Relativität der Rechtsbegriffe
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Auf den zweiten Blick stellt diese vermutete Folgerung aus dem Einheitsgedanken sich jedoch als Irrtum heraus: In Bezug auf scheinbar identische Rechtsbegriffe gilt dasselbe, was im Rahmen der Klärung des Verhältnisses von Recht und Sprache bereits zur Beziehung zwischen Rechts- und Alltagsbegriffen ausgeführt wurde:[313] Ein Begriff und seine Bedeutung sind streng voneinander zu trennen; für die Ermittlung der Bedeutung eines Begriffs ist der Kontext zu berücksichtigen, in dem der Begriff verwendet wird. Verschiedene Rechtsnormen bieten ein und demselben (Rechts-)Begriff daher jeweils verschiedene Umgebungen, die auf seine Bedeutung rückwirken.[314] Dies gilt nicht nur, wenn ein Begriff in verschiedenen Gesetzen verwendet wird, sondern selbst dann, wenn ein Begriff im Rahmen eines Gesetzes an unterschiedlichen Stellen verwendet wird.[315] Dieses Phänomen wird als die sog. „Relativität der Rechtsbegriffe“[316] bezeichnet.
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Dagegen ließe sich einwenden, dass die Entscheidung des Normgebers, denselben Begriff an mehreren Stellen der Rechtsordnung zu verwenden, gerade darauf schließen lässt, dass er hier einen Gleichklang herbeiführen wollte, der Begriff also auf den telos der Norm einwirkt und nicht umgekehrt. Dieser Gedanke geht aber bereits deshalb fehl, weil dem Normgeber nur begrenzte sprachliche Möglichkeiten zu Verfügung stehen.[317] Der Wortschatz einer Sprache ist naturgemäß nicht unerschöpflich. Die Bildung von Neologismen hingegen ist für die Abfassung von Normen nur sehr begrenzt geeignet.[318]
Eine relative Begriffsverwendung ist demnach kein Widerspruch zu einer im hier verstandenen Sinne einheitlichen Rechtsordnung,[319] sondern gerade ein Zeichen derselben.[320]
(bb) Verfassungsrechtliche Begrenzung der Relativität der Rechtsbegriffe?
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Dem Phänomen der Relativität der Rechtsbegriffe könnten allerdings verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt sein. In Frage kommt ein Konflikt mit dem Rechtsstaatsprinzip sowie mit dem allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Ausprägungsform des Willkürverbots.
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Zum Gewährleistungsgehalt des Rechtsstaatsprinzips gehört der Grundsatz der Rechtssicherheit, der wiederum mehrere Elemente in sich vereint.[321] In Betracht zu ziehen sind der allgemeine rechtsstaatliche Bestimmtheitsgrundsatz sowie das Vertrauensschutzprinzip. Letzteres schafft für den Bürger individuelle Erwartungssicherheit.[322] Diese kann sich allerdings nur auf etwa den Fortbestand der Rechtslage, die Wirkung begünstigender Verwaltungsakte oder die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen usw. erstrecken, nicht aber auf die normübergreifend identische Auslegung eines Rechtsbegriffs. Das Bestimmtheitsgebot hat zum Ziel, dem Bürger zu ermöglichen, sein Verhalten an den Erwartungen des Rechts auszurichten.[323] Auch hieraus folgt nicht verfassungsrechtlich verbindlich, dass ein und derselbe Rechtsbegriff in unterschiedlichen Normen identisch verstanden werden müsste.[324] Insgesamt scheidet damit das Rechtsstaatsprinzip zur Begründung einer verfassungsrechtlichen Begrenzung der Relativität der Rechtsbegriffe aus, wovon auch das Bundesverfassungsgericht wie selbstverständlich auszugehen scheint, wenn es ausführt, dass das Steuerrecht „wie jedes andere Rechtsgebiet“ seine eigenen Tatbestände (scil. Begriffsbedeutungen) präge.[325]
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Das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Willkürverbot erfasst nur Fälle, in denen die Rechtsfindung überhaupt nicht mehr nachvollziehbar ist und sich daher der Verdacht des Einflusses sachfremder Erwägungen aufdrängt; diese Schwelle wird laut dem Bundesverfassungsgericht durch eine relative Auslegung von Rechtsbegriffen aber nicht – jedenfalls nicht generell – überschritten, weil es „[i]n einer komplexen Rechtsordnung […] keineswegs ungewöhnlich [sei], daß Rechtsbegriffe […] in verschiedenen Rechtsgebieten unterschiedliche Bedeutung haben.“[326]
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