1 ...7 8 9 11 12 13 ...26 Diese Beispiele mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass wirtschaftliche Umstände und Betrachtungsweisen vielfach Eingang in die Auslegung von Rechtsnormen finden dürfen; dies gilt vor allem im Anwendungsbereich des Rechts der Handelsgeschäfte.
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Hervorzuheben ist noch, dass vor einer eventuellen Rezeption zu untersuchen ist, ob z.B. Handelsbräuche überhaupt dem Wirklichkeitsbegriff zuzuordnen sind. Häufig ist hier nämlich denkbar, dass bestimmte Anschauungen und Verhaltensweisen bereits zu Gewohnheitsrecht erstarkt und als eigenständige Rechtsquelle auch ohne jede Öffnungsklausel im Rahmen der Rechtsanwendung beachtlich sind.
cc) Technische Entwicklung
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Nicht nur auf die wirtschaftliche, sondern auch auf die technische Entwicklung hat der Gesetzgeber – egal, wie er zu den Neuerungen steht[86] – zu reagieren,[87] wobei er regelmäßig[88] „hinterherhinkt“.[89]
Um diesem Problem entgegenzuwirken, ohne in einer hohen Frequenz die rechtlichen Regelungen novellieren zu müssen (was der Rechtssicherheit abträglich wäre), wird häufig auf private Regelwerke entsprechender Fachverbände zurückgegriffen.[90] Hierfür hält das Recht an vielen Stellen entsprechende Öffnungsklauseln vor: so sind etwa bei Maßnahmen des Arbeitsschutzes „der Stand von Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie sonstige gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen“ (§ 4 ArbSchG) und gem. § 57 Nr. 1 WHG darf „eine Erlaubnis für das Einleiten von Abwasser in Gewässer […] nur erteilt werden, wenn die Menge und Schädlichkeit des Abwassers so gering gehalten wird, wie dies bei Einhaltung der jeweils in Betracht kommenden Verfahren nach dem Stand der Technik möglich ist […]“. Der Begriff des „Stands der Technik“ ist dabei im WHG in § 3 Nr. 11 sowie im BImSchG in § 3 Abs. 6 mittels Legaldefinition näher umschrieben und ausdifferenziert, weshalb er insoweit bereits normativiert ist.
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Bewusst wird als nächster denkbarer Gegenstand einer Abhängigkeit des Rechts von lebensweltlichen Umständen ein zum Teil von Gegensätzen geprägtes Begriffspaar gewählt: Zwar verbindet die Begriffe „Kultur“ und „Zeitgeist“ die Tatsache, dass sie eine Form von gesellschaftlichem Konsens beschreiben; während aber Kultur ein Phänomen zeitlicher Konstanz beschreibt,[91] ist das zentrale Wesensmerkmal des Zeitgeistes sein steter Wandel.[92] Ob eine bestimmte gesellschaftliche Anschauung aber dem einen oder dem anderen Phänomen unterfällt, kann nur bei einer Beobachtung über längere Zeit beurteilt werden. Eine rechtserhebliche Entscheidung – sei sie rechtssetzender oder rechtsanwendender Natur – kann jedoch immer nur auf eine Momentaufnahme ihrer gesellschaftlichen Umwelt zurückgreifen. Aus diesem Grund rechtfertigt sich eine gemeinsame Darstellung.
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Die Gegenüberstellung zumindest des Kulturbegriffs mit dem Recht mag insoweit verwundern, als das Recht häufig als Teil der Kultur einer Gruppe[93] bzw. als „Kulturerscheinung“[94] angesehen wird. Insoweit fungiert das Recht allerdings in erster Linie als Spiegel der gesellschaftlichen Anschauungen; denn kulturelle Vorstellungenwirken als Motivation für die Rechtssetzung. Dies gilt gleichermaßen für die grundlegenden Fragen der Staatsgestaltung[95] (weshalb die Verfassungslehre teilweise als Kulturwissenschaft bezeichnet wird)[96] wie auch im Bereich des einfachen Rechts: So ist beispielsweise das Eherecht in Europa stark vom Christentum geprägt.[97] Aber auch auf nur vorübergehende Veränderungen im Werte- und Rechtsbewusstsein der Bevölkerung hat die rechtssetzende Instanz – in der repräsentativen Demokratie nicht zuletzt aus einem Selbsterhaltungsinteresse heraus – regelmäßig zu reagieren.[98]
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Aber auch im Bereich der Rechtsanwendungsind kulturelle und zeitgeistliche[99] Einflüsse (über diejenigen, die bereits durch die Einwirkungen kultureller Ideen auf das Rechtssetzungsverfahren in die Abfassung der Norm eingegangen sind, hinaus) denkbar, sofern das Recht entsprechende Möglichkeiten vorhält.[100] Exemplarisch genannt sei an dieser Stelle das Mordmerkmal „aus niedrigen Beweggründen“.[101] Rechtfertigung erhält die Berücksichtigung weltanschaulicher Entwicklungen dabei insbesondere durch das Demokratieprinzip.[102]
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Das Verhältnis von Recht und Moral gehört zu den umstrittensten rechtsphilosophischen Problemen und ist einer dogmatischen Untersuchung kaum zugänglich. Ausgehend von der rechtspositivistischen These einer Trennbarkeit von Recht und Moral stellt sich zunächst die Frage nach dem maßgeblichen Abgrenzungskriterium. Konsequent zu dem zugrunde gelegten Rechtsbegriff handelt es sich dabei (zumindest in erster Linie) um den Zwangscharakter des Rechts.[103]
Moralische Erwägungen beeinflussen bereits den Prozess der Rechtssetzung, weil politische Ansichten immer auch zum Teil moralisch geprägt sind.[104] Aber auch die Rechtsanwendungist an vielen Stellen der Rechtsordnung für sittliche und moralische Einflüsse offen: So sind etwa gegen die guten Sitten verstoßende Rechtsgeschäfte gem. § 138 Abs. 1 BGB nichtig, und „[d]as zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete kann nicht zurückgefordert werden, […] wenn die Leistung einer sittlichen Pflicht […] entsprach“ (§ 814 Var. 2 BGB).
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Die Zeit ist ein den übrigen bisher genannten Bereichen der Lebenswirklichkeit nur schwer vergleichbares Phänomen. Eine „Akzessorietät“ zwischen Recht und Zeit ist konstruktiv als solche nicht denkbar, weil diese keine Sätze mit bestimmter Aussage formuliert. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Zeit im Recht keine Rolle spielte: Die Existenz von Fristberechnungsvorschriften macht dies ebenso deutlich wie etwa das strafrechtliche Rückwirkungsverbot oder das strafprozessuale Beschleunigungsgebot[105].
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Für die Sprache gilt zunächst dasselbe wie für das eben zur Zeit Gesagte: Da Sprache selbst keine Sätze im Sinne normativer Verhaltensvorgaben formuliert, kann keine „Akzessorietät“ im hier verstandenen Sinne zwischen Recht und Sprache bestehen. Dennoch besteht eine enge Beziehung: „Recht existiert nur mit der Sprache“[106]; die Rechtskultur ist ein Teil der Sprachkultur.[107] Die Sprache ist das Medium, mit der Menschen ihre Welt erfassen[108] und dementsprechend auch das Mittel, um rechtliche Inhalte zu transportieren.[109] Andere Möglichkeiten hierzu stehen dem Normgeber nicht zur Verfügung.[110]
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Schwierige Fragen in Bezug auf das Verhältnis von Recht und Sprache entstehen unter anderem im Zusammenhang mit der Differenzierung von Alltagssprache und juristischer „Fachsprache“[111]. Hier findet sich häufig die Forderung, der Gesetzgeber solle „alltägliche Begriffe“ verwenden; häufig liege es nahe, „daß der Normgeber [einen rechtlichen Begriff] in der üblichen Weise verstanden hat und verstanden wissen sollte“, wenn auch diese Vermutung wiederlegbar sei.[112] Der Gesetzgeber solle „denken als Philosoph und sprechen als Bauer“.[113]
Dem stehen jedoch gewichtige sprachphilosophische Gründe entgegen: Der Normgeber möchte zwar eine bestimmte Bedeutung vermitteln, verwendet hierzu aber Begriffe. Beides ist strikt zu trennen: Ein Begriff hat lediglich verweisenden Charakter; er steht symbolisch für eine bestimmte Bedeutung.[114] Welche Bedeutung dies allerdings ist, ergibt sich bei sprachlichen Begriffen nicht automatisch aus dem Begriff selbst, sondern aus dem Kontext seiner Verwendung.[115] Ob etwa z.B. mit dem Begriff „Band“ ein Textilstreifen oder eines von mehreren zusammengehörigen Büchern gemeint ist, ergibt sich erst aus dem Zusammenhang, in dem der Begriff auftaucht. Ebenso ergibt sich erst aus dem Satzkontext, ob mit „Gericht“ eine Speisenzubereitung oder eine rechtsprechende Institution bezeichnet wird. Dieses Phänomen der Mehrdeutigkeit von Begriffen wird als Äquivokation bezeichnet.[116]
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