(d) Ablehnende Positionen
75
Nur selten wird die Annahme einer Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchslosigkeit nicht nur als vorfindlicher Zustand, sondern auch als Postulat angezweifelt. In diesem Sinne äußert sich Julius Hermann von Kirchmann : Es bilde sich „der Stoff des Sittlichen aus zufälligen, unzusammenhängenden, zerstückelten, oft dunklen Geboten verschiedener Autoritäten […]“; „in den sittlichen Gestalten“ träten „diese Lücken und diese Gegensätze der wirkenden Mächte überall hervor[]“. Die Wissenschaft vermöge „deshalb hier trotz aller Mühe und Anstrengung diese Mängel des Stoffes nicht zu überwinden“, anders als in den Naturwissenschaften fehlten „der Zusammenhang und die Einheit“.[182]
76
Vor dem Hintergrund einer rein verfassungsrechtlichen Perspektive fordert Dagmar Felix „den Verzicht auf die Argumentationsfigur der Einheit der Rechtsordnung“, weil ihr die notwendige verfassungsrechtliche Relevanz fehle.[183] Bedeutung komme ihr lediglich im Umweltstrafrecht zu.[184] Ebenfalls gänzlich verworfen wird die Einheit der Rechtsordnung von Friedrich Müller [185] auf Grundlage seiner Ablehnung einer Einheit der Verfassung.[186]
77
Ebenfalls nicht einheitlich beantwortet wird die Frage, worin der Geltungsgrund der Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchslosigkeit besteht.
(a) Herleitung aus der Rechtsidee bzw. dem Rechtsbegriff
78
Zum Teil wird die Einheit der Rechtsordnung aus der Idee des Rechts selbst abgeleitet:[187]
79
Laut Rudolf Stammler stehen „[d]ie reinen Formen der Rechtsgedanken […] in einem unbedingt einheitlichen Zusammenhange […].“[188] Diese Einheit werde „unter dem Begriffe des Rechts überhaupt“ gebildet,[189] auf den alle Einheitsbemühungen in letzter Konsequenz zurückzuführen seien.[190] Stammler versteht seine Einheitsvorstellung dabei als „Einheit des Verfahrens“,[191] geht also von einem Postulat aus, dem mit wissenschaftlichen Methoden nachzukommen ist. Damit versuchte Stammler , den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz zu begründen.[192] Ein ähnliches Modell findet sich bei Joachim Renzikowski .[193]
80
Auch nach Somló – der die Einheit der Rechtsordnung als Axiom versteht – folgt „aus dem Begriffe des Rechts“, dass „sämtliche Äußerungen einer höchsten Macht zu einem widerspruchslosen System von Rechtsnormen zu deuten sind“[194]. Denn einzelne Rechtsnormen haben keine isolierte Bedeutung, sondern erlangten Relevanz überhaupt erst aus der Beziehung zu anderen Rechtsnormen.[195]
81
Aus einem etwas anderen Ansatz leitet Canaris sein Kombinationsmodell her. Der Systemgedanke wurzle „mittelbar in der Rechtsidee (als dem Inbegriff der obersten Rechtswerte).“[196] Unter letzteren versteht Canaris insbesondere das Gerechtigkeitsgebot, insbesondere in seiner Gestalt des Gleichheitssatzes,[197] sowie die Rechtssicherheit.[198] Aus diesen beiden Prinzipien, die unmittelbar dem Rechtsbegriff entspringen, folge die Aufgabe, „die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung darzustellen und zu verwirklichen“.[199]
(b) Herleitung aus dem Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz
82
Vielfach wird der Grundsatz der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung mit dem Wissenschaftscharakter der juristischen Arbeit in Verbindung gebracht.[200] Eine Herleitung daraus aber würde sich als zirkelschlüssig darstellen. Der Systemcharakter des Rechts kann sich nur als Voraussetzung des Wissenschaftscharakters der Rechtslehre darstellen, nicht hingegen als dessen Folge.[201] Aus diesem Grund wird – soweit ersichtlich – die entsprechende Position wohl auch nicht vertreten. Vielmehr sprechen einige Stimmen in der Literatur aufgrund der Behauptung mangelnder Systemhaftigkeit des Rechts der juristischen Arbeit den Charakter der Wissenschaftlichkeit ab.[202]
(c) Herleitung aus dem Geltungswillen der Normsetzer
83
Clemens Höpfner leitet das Postulat[203] der systemkonformen Auslegung – neben verfassungsrechtlichen Prinzipien[204] – auch aus dem Geltungswillen der Normsetzer ab.[205] Es sei nicht mit dem Anspruch auf soziale Verhaltenssteuerung vereinbar, bewusst widersprüchliche Anordnungen zu treffen.[206] Da Höpfner jedoch von einer „Vielzahl von Normsetzern“ ausgeht, also die verschiedenen Repräsentanten (die vom jeweils vorherrschenden Zeitgeist geprägt sind) logisch voneinander trennt,[207] schließt er nicht aus, dass es zu unbewussten Widersprüchen kommen kann.[208] Es sei Aufgabe der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung, diese im Wege des „denkenden Gehorsam[s]“ aufzulösen.[209]
(d) Herleitung aus Verfassungsprinzipien
84
Vielfach wird die Einheit der Rechtsordnung aus dem Verfassungsrecht abgeleitet. Teilweise wird sogar behauptet, nur dann könnte der Rechtsfigur überhaupt eine ernsthafte Bedeutung zukommen.[210] Dass das Grundgesetz den Begriff der „Einheit der Rechtsordnung“ nicht kennt,[211] hat hierfür keine Relevanz.[212]
(aa) Demokratieprinzip
85
Den ersten denkbaren Anknüpfungspunkt bildet das Demokratieprinzip. Gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG geht alle Staatsgewalt von Volke aus. Dieses Volk ist ausweislich der Präambel sowie Art. 1 Abs. 2 GG, Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 146 GG nur einVolk, das dementsprechend auch nur einenWillen bilden kann.[213] Aus diesem einheitlichen Willen folge die Einheit der Rechtsordnung.[214]
(bb) Rechtsstaatsprinzip
86
Als weitere Quelle wird das Rechtsstaatsprinzip genannt. Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung diene der Rechtssicherheit, die wiederum Teil des Rechtsstaatsprinzips sei, insbesondere in ihrer Ausprägungsform des Gebots der Normenklarheit.[215] Zudem würde die Begründung einer Einheit der Rechtsordnung aus dem Demokratieprinzip durch den ebenfalls dem Rechtsstaatsprinzip entspringenden Grundsatz der Gewaltenteilung untermauert, denn einerseits würde der einheitliche Wille des Volkes durch die Verfassungs- und Gesetzesbindung der Rechtsprechung und der Exekutive im Rahmen der horizontalen Gewaltenteilung weitergetragen, zum anderen in vertikaler Hinsicht durch die hierarchische Struktur der Rechtssetzung gewährleistet.[216] Auch das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass „[d]as Rechtsstaatsprinzip und die bundesstaatliche Kompetenzordnung […] alle rechtsetzenden Organe [verpflichten], ihre Regelungen jeweils so aufeinander abzustimmen, daß den Normadressaten nicht gegenläufige Vorschriften erreichen, die Rechtsordnung also nicht aufgrund unterschiedlicher Anordnungen widersprüchlich wird […].“[217]
(cc) Bundesstaatsprinzip
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Wie bereits die soeben zitierte Äußerung des Bundesverfassungsberichts deutlich macht, werden auch das Bundesstaatsprinzip und die föderale Kompetenzverteilung zur Begründung der Einheit der Rechtsordnung herangezogen. Einen Hinweis hierauf gibt Art. 72 Abs. 2 GG, der die Zuständigkeitszuweisung an den Bund in bestimmten Bereichen davon abhängig macht, ob eine bundeseinheitliche Regelung zur „Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit“ notwendig ist.[218] Zudem werden die harmonisierenden Vorschriften gem. Art. 28 Abs. 1, 31 und 142 GG angeführt, die für ein einheitliches Recht im Bundesgebiet sprechen sollen.[219]
(dd) Gleichheitssatz
88
Ebenfalls mehrfach als Geltungsgrund der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung wird der Gleichheitssatz genannt,[220] der seinen positiv-rechtlichen Niederschlag in Art. 3 Abs. 1 GG findet. Ihn beschreibt etwa Canaris als eines der Grundprinzipien, die aus der Rechtsidee folgen und unmittelbar die Einheit der Rechtsordnung zur Folge haben.[221] Dagegen wird eingewandt, „daß das System zur Rechtsquelle erhoben, die Rechtswissenschaft dem politischen Gesetzgeber übergeordnet würde.“[222] Das Bundesverfassungsgericht hat den Systemgedanken mehrfach mit dem Gleichheitssatz in Verbindung gebracht, einer Systemwidrigkeit allerdings nur indizielle Wirkung für die Annahme eines Verfassungsverbots beigemessen;[223] darüber hinaus stelle „[d]er Gedanke der „Systemgerechtigkeit“ und organisatorischen Reinheit […] keinen selbständigen verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab“ dar.[224]
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