Im Einzelfall mittels operativer Koppelung reaktionsfähig zu sein, setzt daher das Vorhandensein einer strukturellen Koppelung voraus. Die im Einzelereignis gekoppelte Operation stellt lediglich eine Konkretisierung bzw. Umsetzung der strukturellen Koppelung der Systeme dar.
(b) Interferenzmodell (Teubner)
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Nach Teubner existiert ein Zusammenhang zwischen den Operationen verschiedener Systeme aufgrund von Interferenzen.[41] Gemeint ist damit Folgendes: Das Rechtssystem stellt ein Subsystem des gesamtgesellschaftlichen Systems dar. Jeder Kommunikationsvorgang im Rechtssystem stellt gleichzeitig einen allgemeingesellschaftlichen Akt dar (auch wenn der Code der Kommunikation sich nach dem jeweiligen System richtet).[42] Die Kommunikation auf der Ebene des allgemeingesellschaftlichen Systems interferiert aber wiederum mit den anderen Subsystemen der Gesellschaft, sodass dort ebenfalls – systeminterne – Operationen erfolgen können.
Ein Zugang außerrechtlicher Vorgänge in das Rechtssystem hinein erfolgt also über den „Umweg“ des Gesamtsystems Gesellschaft. Vorkommnisse in einem Subsystem der Gesellschaft haben zwangsläufig Auswirkungen auf das gesamtgesellschaftliche System, was wiederum auf die anderen Subsysteme – und folglich auch auf das Rechtssystem – durchschlägt bzw. zumindest durchschlagen kann.
(4) Konsequenzen für die These einer Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit
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Nach alledem steht auch ein systemtheoretischer Ansatz einer Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit nicht im Wege. „Soziale, ökonomische, politische Determinierung des Rechts wird – allen gegenteiligen Unterstellungen zum Trotz – in einem selbstreproduzierenden Rechtssystem nicht ausgeschlossen, sondern [ist] vorausgesetzt.“[43] „[W]eder die Realität noch die kausale Relevanz der Umwelt werden geleugnet […].“[44] „Die Trennung von Sein und Sollen rechtfertigt keinen selbstgenügsamen Methodenkanon.“[45]
Die dargestellten Modelle zur Relativierung der Autonomie der einzelnen gesellschaftlichen (Sub-)Systeme eröffnen verschiedene Möglichkeiten des Zugangs gesellschaftlicher Vorgänge in das Rechtssystem. Zudem bietet im Übrigen das systemtheoretische Modell bereits in seinem Ausgangspunkt die Möglichkeit zur Herstellung von Akzessorietätsbeziehungen: Durch die kognitiveOffenheit der sozialen Systeme ist eine Beobachtung der Umwelt durchaus möglich. Zwar kann diese nicht direkt auf das Recht einwirken; allerdings kann das Recht, wenn es sich selbstreferentiell wiederherstellt, auf seine Beobachtungender Umwelt Bezug nehmen. Ein Kommunikationsakt des Rechtssystems selbst kann für dieses nämlich trotzdem bindende Wirkung entfalten. Zwar kann kein außerrechtlicher Vorgang eine Entscheidung über Recht oder Unrecht treffen, aber das Rechtsystem kann sich bei dieser Entscheidung auf seine Umweltbeobachtungen stützen. Erforderlich ist hierfür lediglich, dass das Recht selbst systeminterne Instrumente vorhält, um eine entsprechende Operation zu ermöglichen.[46]
bb) Verfassungsrechtliche Einwände gegen eine Akzessorietät des Rechts zur Wirklichkeit
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Ein zweiter Einwand ergibt sich seitens der Verfassung: Gemäß Art. 20 Abs. 3 GG sind „die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung […] an Gesetz und Recht gebunden“; die Richter sind „dem Gesetze unterworfen“ (Art. 97 Abs. 1 GG). Diese Formulierungen legen den Schluss nahe, dass jedenfalls in der Phase der Rechts anwendungeine Heranziehung außerrechtlicher Umstände zur Rechtsfindung unzulässig sein könnte.
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Bei genauerem Hinsehen offenbart sich jedoch, dass sich aus den genannten Vorschriften kein Gebot der alleinigen Ableitung des Rechtsanwendungsergebnisses aus dem Recht ergibt, sondern lediglich ein Vorrangder Heranziehung von Rechtsnormen, denn diese allein werden für verbindlich erklärt. Das bedeutet für die Einbeziehung lebenswirklicher Fakten, dass sie zum einen zulässig ist, wenn Rechtsnormen auf sie verweisen.[47] Zum anderen ist eine Herleitung aus außerrechtlichen Gegebenheiten möglich, wenn insoweit keine rechtliche Regelung existiert, weil dann der Vorrang der Begründung aus rechtlichen Elementen nicht unterlaufen wird.[48] Die Rezeption außerrechtlicher Umstände kann nur aus dem Recht selbst heraus erfolgen.[49]
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Die These von der Akzessorietät des Rechts wird somit durch die Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG nicht widerlegt, sondern lediglich eingeschränkt: Soweit ein bestimmter Lebensbereich rechtlich überhaupt geregelt ist, bedarf es zur Einbeziehung außerrechtlicher Umstände einer entsprechendenden (hier sog.) „ Öffnungsklausel“[50]. Dieses Ergebnis entspricht im Wesentlichen der obigen Darstellung zur Systemtheorie, wonach (nur) durch eine rechtssystem immanenteOperation Umweltbeobachtungen bei der Rechtsanwendung fruchtbar gemacht werden können.
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Gusy stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass dem Rechtsanwender die Bewertung einer aus außerrechtlichen Quellen geschöpften Erkenntnis entzogen ist, vielmehr lediglich rechtliche Anforderungen an die Art und Weise ihrer Gewinnung zulässig sind.[51] Dies scheint auf den ersten Blick verwunderlich, ist der Richter doch auch etwa nicht an die Ergebnisse eines Sachverständigengutachtens gebunden.[52] Allerdings ist es vorrangig die Aufgabe des Richters, Rechtsfragen zu beantworten. Jedoch wird ein außerrechtlicher Maßstab, auf den eine Rechtsnorm Bezug nimmt, damit nicht selbst in den Rang einer Rechtsnorm erhoben.[53] Zudem fehlt es dem Richter in Bezug auf vom Recht rezipierte außerrechtliche Sätze regelmäßig an Sachkunde. Freilich bestehen vereinzelte Ausnahmen: So können etwa bei den Landgerichten zivile Kammern für Handelssachen eingerichtet werden, die neben dem Vorsitzenden aus zwei stimmgleichberechtigten ehrenamtlichen Richtern bestehen (§ 105 GVG), die dem Handelsstand angehören (vgl. § 109 GVG). Auf den Aspekt der gerichtlichen Überprüfbarkeit wird an späterer Stelle noch einzugehen sein.[54]
cc) Einwand der Kontrafaktizität des Rechts
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Es verbleibt der Einwand, die Rezeption bestehender Lebenswirklichkeiten würde, da das Recht seiner Natur nach auf die Veränderung der Außenwelt abzielt, eben diesem Zweck zuwiderlaufen.[55] Diese Kritik wird weiterhin gestützt durch die Luhmann sche Systemtheorie, welche die Funktion des Rechts als „Stabilisierung normativer Erwartungen“ und Rechtsnormen als „kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartung[en]“ begreift.[56]
Wenn auch diesem Einwand dem Grunde nach zuzustimmen ist,[57] so verkennt er doch, dass Recht nicht zwangsläufig zur Änderung der bestehenden Verhältnisse führen muss, sondern auch zu deren Stabilisierung dienen kann. Alles andere würde bedeuten, dass ein präventives Verbot bzw. eine dazugehörige Sanktionsnorm nur geschaffen werden dürfte, sobald es zumindest einen „Verstoß“ gegen diese noch nicht geltende Vorschrift gegeben hat.
Auch im Übrigen kann eine „Wissenschaft vom Sollen“ nicht vollständig vom „Sein“ gelöst sein;[58] die beiden Kategorien stehen nicht „von vornherein beziehungslos nebeneinander“.[59] Dies findet seinen Hintergrund nicht zuletzt in der Tatsache, dass ein stabiles Rechtssystem – jedenfalls im Großen und Ganzen – auf die Akzeptanz seiner Rechtsunterworfenen angewiesen ist,[60] was nur bei einer Anlehnung an die bestehenden Verhältnisse möglich ist.
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Eine Akzessorietät des Rechts zu einzelnen Bereichen der Lebenswirklichkeit ist weder bei Zugrundelegung eines systemtheoretischen Ansatzes noch aus verfassungsrechtlichen Gründen oder gar aufgrund der Natur des Rechts selbst dem Grunde nach ausgeschlossen. Für die Phase der Rechts setzungergeben sich insoweit überhaupt keine Einschränkungen. Hinsichtlich der Rechts anwendungist aber erforderlich, dass eine rechtsimmanente Öffnung für außerrechtliche Aspekte besteht.
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