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Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass z.B. in Bayern das Fachgebiet der „Verletzungsmechanik“zur öffentlichen Bestellung als Sachverständiger geschaffen wurde. Die Zulassungsvoraussetzungen setzen eine fundierte (universitäre) Ausbildung auf technisch/physikalischem und medizinischem Gebietvoraus.[21] Da derart qualifizierte Sachverständige in der Lage sind, die Verletzungsmechanismen unter qualitativer und quantitativer Beurteilung der mechanischen Belastungen als auch deren Auswirkungen auf den menschlichen Körper vorzunehmen, reicht die Bestellung eines Sachverständigen zur Klärung eines problematischen HWS-Schleudertrauma-Falles aus. Allein eine biomechanische Begutachtung vermag eine medizinische Begutachtung grundsätzlich nicht zu ersetzen.[22] Die Feststellung einer HWS-Distorsionsverletzung ist nämlich eine medizinische Frage.[23] Der medizinischen Begutachtung kommt deshalb rechtlich ausnahmslos die sachverständige Letztentscheidungzu.[24] Aber: Die Feststellung eines HWS-Schleudertraumas ist zwar in erster Linie eine medizinische Frage, doch müssen vor Einholung eines medizinischen Gutachtens eine unfallanalytische und sodann eine biomechanische Begutachtung erfolgen. Biomechanische Gutachten sind zur Feststellung der Unfallfolgen nicht verzichtbar, da die biomechanische Beurteilung die Brücke zwischen den vom Unfallanalytiker berechneten Fahrzeugwerten und der medizinischen Begutachtung baut, die die ärztlich dokumentierten subjektiven Beschwerden und objektiven Befunde (klinische und bildgebende Untersuchungen usw.) zum Gegenstand hat.[25]
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Praxishinweis
Werden überflüssige Gutachten eingeholt, so kommt ggf. später eine Niederschlagung der Kosten hierfür in Betracht. Grundlage hierfür ist § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG, der vor allem gilt, wenn eine Berufung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels, welcher allein gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zur Aufhebung und Zurückverweisung führen kann, erfolgreich ist. Es liegt dann nämlich eine unrichtige Sachbehandlung im Sinne des § 21 Abs. 1 Satz 1 GKG vor.[26]
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Praxishinweis
Dem Verteidiger sollte bekannt sein, welche Informationen für die interdisziplinäre Begutachtung beim HWS-Schleudertraumavon Bedeutung sind, um ggf. die Sicherung und Beschaffung dieser notwendigen Fakten zu veranlassen. Im Einzelnen sollten vorliegen[27]:
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Lichtbilder der an der Kollision beteiligten Fahrzeuge, |
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Reparaturkalkulationen oder Kostenvoranschläge, |
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Fahrzeugdaten (Kopien der Fahrzeugscheine), |
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Angaben zur Beladung der Fahrzeuge, |
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Unfallskizze, Fotos der Unfallszene, |
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Einschätzung der Belastungsrichtung (vorn/hinten/rechts/links oder in Kombination), |
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Informationen zur Sitzbeschaffenheit und Kopfstützeneinstellung, |
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Angaben zum Sicherheitsgurt (angelegt?), |
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Informationen zur Körper- und Kopfhaltung zum Zeitpunkt der Kollision, |
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Angaben zur Position im Fahrzeug (z.B. Beifahrer), |
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Personendaten (Körperlänge, Gewicht, Alter und Geschlecht), |
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Informationen zu Vorerkrankungen (z.B. Veränderungen im Bereich der HWS) bzw. zur Beschwerdefreiheit vor der Kollision (ärztliche Berichte etc.), |
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Angaben zum Zeitintervall zwischen Kollision und erstmaligem Auftreten der Beschwerden. |
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Heftig diskutiert wurde in den vergangenen Jahren, ob es für die Halswirbelsäuleeine bestimmte Belastungsgrenzegibt. Im Kern geht es um die Frage, ob es je nach Größe der physikalischen Kraft des Zusammenstoßes von Fahrzeugen, also der sich hierbei ergebenden Differenzgeschwindigkeit, einen bestimmten Wert gibt, bei dessen Unterschreitung eine Verletzung der HWS ausgeschlossen ist.[28] Der BGH [29] hat die Annahme einersogenannten „Harmlosigkeitsgrenze“, d.h. einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, bei deren Vorliegen eine Verletzung der eine HWS-Verletzung generell auszuschließen ist, abgelehnt, mithin die schematische Anwendung einer starren Belastungsgrenze verworfen,[30] denn es kann durchaus Fälle geben, in denen trotz Eingreifens der Harmlosigkeitsgrenze eine Verletzung möglich ist.[31] Allerdings bleibt die Feststellung der individuellen (biomechanischen) Belastung der Fahrzeuginsassenauf Grund des konkreten Unfallgeschehens ein wichtiges Indiz für die Beurteilung, ob eine HWS-Verletzung unfallbedingt hervorgerufen werden konnte. Die aus Crash-Versuchen gewonnenen Erfahrungen zeigen, dass bei kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen von bis zu 11 km/h allein unter biomechanischen Aspekten nicht von Beschwerden oder Verletzungen der HWS ausgegangen werden kann.[32] Dem entsprechend ist davon auszugehen, dass bei einer kollisionsbedingten Differenzgeschwindigkeit von weniger als 10 km/hder Eintritt einer Wirbelsäulenverletzung bei einer gesunden Person auf Grund zu geringer biomechanischer Insassenbelastung grundsätzlich nicht eintreten kann.[33]
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Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse wird der Verletzte in geeigneten Fällen einwenden, es seien verletzungsfördernde Faktoren für die HWSzu berücksichtigen. Dazu zählt insbesondere der „Überraschungseffekt“, der sich bei der Heckkollision insbesondere deshalb ergibt, weil der Insasse anders als bei der Frontalkollision auf den Unfall optisch unvorbereitet ist. Nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist der „Überraschungseffekt“ jedoch nicht sicher als verletzungsfördernder Faktor anzunehmen.[34] Dies gilt auch für die Hypothese einer erhöhten Verletzungsanfälligkeit der HWS bei abweichender Kopfhaltung („Out of Position“).[35] Die Verteidigung sollte in diesem Zusammenhang den Verfahrensbeteiligten darlegen, dass nach wissenschaftlichen Erkenntnissen[36] fast 90 % der zu Begutachtenden mit HWS-Beschwerden nach Heckkollisionen einer biomechanischen Belastung, die auch im Autoscooter erreicht wird, ausgesetzt waren.
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Praxishinweis
Die Ursächlichkeit eines Unfalls für behauptete HWS-Beschwerden kann nicht festgestellt werden, wenn nicht sicher ausgeschlossen werden kann, dass die Beschwerden auf einer Schädigung durch einen Vorunfall beruhen und der gerichtliche Sachverständige eine Verschlimmerung einer Vorschädigungzwar für möglich, aber nicht für wahrscheinlich hält.[37] Es gehört mithin zu den Aufgaben des Verteidigung, Umständen, die auf eine Vorschädigung hindeuten, nachzugehen und diese ggf. in das Verfahren einzuführen.
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Atteste über ein „HWS-Schleudertrauma“sollten nach alledem unter Berücksichtigung etwaiger Fehlerquellen genau hinterfragt werden.[38] Dabei ist auf eine möglichst exakte Bezeichnung der Art und Lokalisation der behaupteten unfallbedingten Verletzungen Wert zu legen.[39] Häufig finden sich ärztliche Diagnosen, die lediglich Verdachtsdiagnosendarstellen oder lediglich auf den subjektiven Angaben des Patientenberuhen. Der Arzt kann die Verlässlichkeit der Angaben des Patienten (z.B. heftiger Aufprall, Kopfschmerzen, etc.) in der Regel nicht nachprüfen.[40]
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Praxishinweis
Zweifel sollten daher insbesondere dann auftauchen, wenn sich in dem Arztattest Bezugnahmen auf „glaubhafte Angaben bzw. Beschwerden“ finden. Die „Glaubhaftigkeit“, die in einem Arztattest erwähnt wird, steht in der Regel für diagnostische Defizite und/oder fehlende traumatologische Erfahrungen des Gutachters. Gerade dann ist es angezeigt, die erhobenen physikalischen und medizinischen Unfallparameter in Beziehung zu setzen, um eine verlässliche Aussage darüber zu erhalten, ob der Unfallverlauf und die objektiven Befunde mit dem geklagten Beschwerdebild in Einklang zu bringen sind[41].
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