Folgt man diesem Konzept, so ergibt sich folgender Deliktsaufbau des § 823 I:
A ist dem B zum Schadensersatz verpflichtet, wenn
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A den B geschädigt hat, |
2. |
indem er ein absolutes Recht des B verletzt hat (= die im absoluten Recht geschützten Interessen des B beeinträchtigt hat), |
3. |
und zwar pflichtwidrig = widerrechtlich a) entweder vorsätzlich, ohne dass Rechtfertigungsgründe vorliegen b) oder fahrlässig, |
4. |
es sei denn, dass A gemäß §§ 827, 828 nicht verantwortlich ist (beachte aber § 829). |
272
Die Erkenntnis, dass derjenige, der weder vorsätzlich noch fahrlässig handelt, auch keine Widerrechtlichkeit begeht, hat der BGH (Großer Senat, BGHZ 24, 21) für den Bereich des Straßenverkehrsakzeptiert. Doch konnte sich das Gericht nicht dazu entschließen, die Lehre vom Handlungsunrecht allgemein aufzunehmen. Der BGH bleibt also bei der Theorie vom Erfolgsunrecht und konstruiert speziell für den Straßenverkehr einen besonderen Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens. Diese Rechtsprechung ist nicht folgerichtig: Warum soll im Straßenverkehr das Handeln der Menschen nach anderen Kriterien beurteilt werden als auf den übrigen Feldern menschlichen Zusammenlebens?
Literatur:
Die Deutung der unerlaubten Handlung ist streitig, siehe: E. v. Caemmerer , Wandlungen des Deliktsrechts, DJT – Festschrift II, 49; R. Wiethölter , Der Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens, 1960; E. Deutsch , Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, 2. Aufl. 1995; W. Münzberg , Verhalten und Erfolg als Grundlagen der Rechtswidrigkeit und Haftung, 1966; M. Gruber , Freiheitsschutz als Zweck des Deliktsrechts, 1998; N. Jansen , Die Struktur des Haftungsrechts, 2003; A. Zeuner , Gedanken über Bedeutung und Stellung des Verschuldens im Zivilrecht, JZ 1966, 1; H. Stoll , Unrechtstypen bei Verletzung absoluter Rechte, AcP 162, 203; C. Becker , Schutz von Forderungen durch das Deliktsrecht?, AcP 196, 439; E. Picker , Vertragliche und deliktische Schadenshaftung, JZ 1987, 1041; M. Rohe , Gründe und Grenzen deliktischer Haftung – die Ordnungsaufgaben des Deliktsrechts, AcP 201, 117; C.-W. Canaris , Grundstrukturen des deutschen Deliktsrechts, VersR 2005, 577; A. Röthel , Unerlaubte Handlungen, Jura 2013, 95; J. Mohr , Rechtswidrigkeit und Verschulden im Deliktsrecht, Jura 2013, 567.
Allgemein zum Deliktsrecht:
E. Deutsch/H.-J. Ahrens , Deliktsrecht. Unerlaubte Handlungen, Schadensersatz, Schmerzensgeld, 6. Aufl. 2014; H. Ehmann , Deliktsrecht mit Gefährdungshaftung, 2014; M. Fuchs/W. Pauker , Delikts- und Schadensersatzrecht, 8. Aufl. 2012; H. Kötz/G. Wagner , Deliktsrecht, 11. Aufl. 2010. Zum europäischen Recht: Chr. v. Bar , Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. 1, 1996; Bd. 2, 1999.
b) Das Verschulden: Vorsatz und Fahrlässigkeit
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Wie das Strafrecht kennt das bürgerliche Deliktsrecht zwei Verschuldensformen: Vorsatz und Fahrlässigkeit.
Vorsätzlichhandelt, wer den Verletzungserfolg durch sein Handeln im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit herbeiführen will. Es genügt, wenn der Handelnde den Verletzungserfolg als möglich voraussieht und ihn für den Fall seines Eintritts billigend in Kauf nimmt (bedingter Vorsatz).
Fahrlässigkeitliegt vor, wenn der Verletzungserfolg nicht auf Vorsatz, aber darauf beruht, dass der Handelnde in Bezug auf das verletzte Recht die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat, § 276 II.
Welche Verschuldensform in Betracht kommt, ist der jeweiligen Anspruchsnorm zu entnehmen; § 826 zB verlangt Vorsatz, während bei § 823 I sowohl Vorsatz als auch Fahrlässigkeit das Verschuldenselement ausfüllen. Gewöhnlich sind unter dem Begriff „Verschulden“beide Verschuldensformen begriffen.
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Bei der Fahrlässigkeitgibt es unterschiedliche Grade. Der allgemeine Fahrlässigkeitsbegriff, wie er in § 823 I und § 276 I gebraucht ist, umfasst jede vorwerfbare Sorgfaltswidrigkeit, angefangen von leichtsinnigem Handeln bis hin zu geringfügigen Sorgfaltsverstößen. Dem steht die grobe Fahrlässigkeitals Bezeichnung für schwere Sorglosigkeit gegenüber. Durch gesetzliche Vorschrift oder durch Vertrag kann vorgesehen sein, dass jemand in einem bestimmten Rechtsverhältnis oder Lebenssachverhalt nur für grobe Fahrlässigkeit haftet. Diese Vergünstigung trifft zB den Verleiher im Rechtsverhältnis zum Entleiher; er hat nur Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit „zu vertreten“ (§ 599), weil er dem Entleiher eine unentgeltliche Leistung gewährt.
Durch Gesetz oder Rechtsgeschäft kann ein milderer Haftungsmaßstab auch in der Form angeordnet sein, dass eine Person nur für diejenige Sorgfalteinzustehen hat, die sie in eigenen Angelegenheiten anzuwenden pflegt(diligentia quam in suis). Diese Privilegierung ist zB demjenigen zugestanden, der für einen anderen eine Sache unentgeltlich verwahrt (§ 690). Grobe Fahrlässigkeit ist aber auch bei diesem Haftungsmaßstab stets zu vertreten (§ 277).
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Die Parteien eines Rechtsverhältnisses können über den Verschuldensmaßstab, der zwischen ihnen Anwendung finden soll, wirksame Vereinbarungentreffen. So können Vertragsparteien verabreden, dass sie einander bei Abwicklung des Vertragsverhältnisses nur für Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit verantwortlich sein wollen; diese Abrede erstreckt sich in der Regel auch auf deliktische Handlungen, die zwischen diesen Parteien im Rahmen der Abwicklung des Vertragsverhältnisses vorkommen. Doch ist die Möglichkeit, den Verschuldensmaßstab durch vertragliche Abrede zu mildern, begrenzt: Die Haftung wegen Vorsatzes kann nicht im Voraus erlassen werden (§ 276 III; dies gilt nicht nur für den im Gesetzestext genannten „Schuldner“, sondern allgemein). Ferner setzt § 309 Nr 7 der Vereinbarung von Haftungserleichterungen, die auf Grund Allgemeiner Geschäftsbedingungen zu Gunsten des Verwenders gelten sollen, Grenzen.
c) Die Fahrlässigkeit insbesondere
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Während der Begriff des Vorsatzes leicht zu erfassen ist, bereitet die genaue Bestimmung der Fahrlässigkeit Schwierigkeiten. Was genau muss man einer Person vorwerfen können, um ihr Handeln als „fahrlässig“ einzuordnen?
Fall 10:
Professor S kommt aus der Vorlesung. Er denkt über das Problem des Handlungsunrechts nach, das er den Studenten nicht hat klarmachen können. Geistesabwesend stößt er an einen auf dem Gehsteig befindlichen Obststand und reißt die Obstkörbe zu Boden. Der Händler H kann das Obst nicht mehr absetzen und erleidet einen Schaden. Er verlangt von S Schadensersatz.
S hat das Eigentum des H verletzt und ihm dadurch eine Schaden zugefügt. Fraglich ist, ob S ein Verschulden trifft. In Betracht kommt fahrlässiges Handeln. Die Frage, ob S fahrlässig gehandelt hat, kann man auf verschiedene Weise stellen. Man könnte zB fragen, ob S bei Anspannung aller ihm zur Verfügung stehenden Kräfte sich anders verhalten und die Beeinträchtigung hätte vermeiden können. Bei diesem Fahrlässigkeitsbegriff (fahrlässig handelt, wer den Erfolg bei Anspannung aller ihm zur Verfügung stehenden Kräfte hätte vermeiden können) hätte S Chancen, um die Schadensersatzpflicht herumzukommen. Denn er befand sich in einem psychischen Zustand, den er nicht freiwillig gewählt hatte. Niemand, auch nicht ein Psychologe, kann uns verlässlich sagen, ob S zur Verhinderung des Erfolgs noch psychische Kräfte hätte anspannen können. Es gibt Leute, die leicht erregbar sind. Niemand kann sagen, ob sie gerade diese oder jene Erregung durch Selbstkontrolle hätten verhindern können. Es gibt Menschen, die häufig dahinträumen. Niemand kann sagen, ob sie in einer bestimmten Situation einen solchen Zustand durch Anstrengung hätten vermeiden können. Fahrlässigkeit, begriffen als Vorwurf, dass gerade dieser Handelnde bei Anspannung der gerade ihm zur Verfügung stehenden Kräfte gerade in diesem Fall hätte anders handeln und so die Rechtsbeeinträchtigung hätte vermeiden können (subjektive Fahrlässigkeit), bildet daher keine für das Zivilrecht brauchbare Kategorie.
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