252
So nimmt man zB Rechtsmissbrauchan, wenn jemand auf Grund bestehenden Anspruchs eine Leistung fordert, die er aus anderem Rechtsgrund sogleich wieder zurückgeben müsste („arglistig handelt, wer fordert, was er zurückgewähren muss“, BGHZ 38, 122, 126). Obwohl der Anspruch besteht, entfällt das Interesse des Gläubigers an der Leistung infolge der Pflicht, sie sofort zurückzugeben. Ähnlich ist die Lage, wenn mit der Geltendmachung eines Rechts nicht diejenigen Interessen verfolgt werden, die es schützen soll, sondern völlig andere Zwecke. „Als unzulässige Rechtsausübung oder Rechtsmissbrauch muss es [...] angesehen werden, wenn eine gesetzliche Vorschrift außerhalb ihres ursprünglichen Zusammenhangs in einer zweckfremden Weise und mit zweckfremdem Ziel verwandt wird [...]. Unzulässige Rechtsausübung oder Rechtsmissbrauch ist demnach auch die Ausnutzung formeller Möglichkeiten der Gesetze entgegen ihrem unzweideutigen Rechtsgedanken“ (BGHZ 3, 94, 103). So etwa, wenn bei einem Vertrag der eine Teil eine relativ geringfügige Vertragswidrigkeit seines Partners zum Anlass nimmt, sich gemäß den vertraglichen Bestimmungen von dem ohnehin als lästig empfundenen Vertrag zu lösen (BGH NJW 1958, 1284; BGH BB 1957, 92).
Aus § 242 wird auch hergeleitet, dass der Partner eines Dauerschuldverhältnisses(zB Mietvertrags), der dem anderen Teil wegen Vertragsverletzung fristlos kündigen will, diesen zunächst erfolglos abgemahnt haben muss: Dem anderen Teil soll eine letzte Gelegenheit eingeräumt werden, sich vertragsgemäß zu verhalten, bevor das scharfe Schwert der außerordentlichen Kündigung gegen ihn zum Einsatz kommt (anders, wenn nach den Umständen die Abmahnung von vornherein aussichtslos erscheint oder wenn durch die Vertragsverletzung das Vertrauensverhältnis unter den Parteien erschüttert ist, BGH NJW-RR 2004, 873, 874).
Literatur zum Prinzip von Treu und Glauben:
E. Betti , Der Grundsatz von Treu und Glauben in rechtsgeschichtlicher und -vergleichender Betrachtung, Festgabe R. Müller-Erzbach , 1954, 7; H. Eichler , Die Rechtslehre vom Vertrauen, 1950; F. Wieacker , Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242, 1956; H.-W. Strätz , Treu und Glauben, Bd. 1: Beiträge und Materialien zur Entwicklung von „Treu und Glauben“ in deutschen Privatrechtsquellen vom 13. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, 1974; R. Weber , Entwicklung und Ausdehnung von § 242 BGB zum „königlichen Paragraphen“ JuS 1992, 631.
Zum Rechtsmissbrauch, s. unzulässige Rechtsausübung ( Rn 257), zudem H. Merz , Vom Schikaneverbot zum Rechtsmissbrauch, Zeitschrift für Rechtsvergleichung 1977, 162; Armbrüster , Treuwidrigkeit der Berufung auf Formmängel, NJW 2007, 3317; J. Petersen , Die Grenzen zulässiger Rechtsausübung, Jura 2008, 759.
4. Verjährung und Verwirkung
253
Für das Problem der Begrenzung subjektiver Rechte spielt auch das Zeitmomenteine Rolle, die bei den einzelnen Rechtstypen unterschiedlich ausgestaltet ist. „Ewigen“ Rechten wie dem Eigentum an einer Sache, das sich durch die Generationen vererbt, stehen Rechte gegenüber, denen das Gesetz zeitliche Grenzen setzt, beispielsweise dadurch, dass sie nicht vererbt werden können (wie der Nießbrauch, § 1061 S. 1) oder dass eine zeitliche Höchstdauer festgelegt ist (zB Urheberrecht, § 64 UrhG).
254
Ansprüchegehen, sofern keine speziellere Regelung besteht, nicht durch Zeitablauf unter. Vielmehr bewältigt das BGB das Zeitproblem für Ansprüche durch die eigenartige Rechtsfigur der Verjährung. Nach dem Verstreichen bestimmter Fristen (§§ 195–197) erhält der Verpflichtete ein Leistungsverweigerungsrecht(§ 214 I). Leistet er dennoch, so kann er die Leistung selbst dann nicht zurückfordern, wenn er sie in Unkenntnis der Verjährung bewirkt hat (§ 214 II 1/§ 813 I 2). Auch nach Ablauf der Verjährungsfrist besteht also der Anspruch weiter, theoretisch ohne zeitliche Begrenzung; er kann noch erfüllt werden, jedoch kann der Schuldner die Leistung verweigern. Für diese Regelung werden zwei Zwecke genannt: Sie soll den Schuldner davor bewahren, aus lange zurückliegenden Vorgängen, deren Aufklärung erschwert ist, belangt zu werden; sie soll ferner einer Belastung der Gerichtsbarkeit mit komplizierten Prozessen vorbeugen. Es schwingt darüber hinaus aber auch der Gedanke mit, dass ein Schuldner, der eine gewisse Zeit vom Gläubiger trotz Fälligkeit der Forderung nicht belangt worden ist, sich darauf einzustellen beginnt, der Gläubiger werde nicht mehr an ihn herantreten. Der Schuldner soll ab einer bestimmten Zeit nicht mehr durch die Geltendmachung des Anspruchs überrascht werden können.
254a
Prüfungsschema Voraussetzungen der Verjährung:
1. |
Es handelt sich um einen Anspruch, welcher der Verjährung unterliegt (§ 194 I, II). |
2. |
Bestimmung der einschlägigen Verjährungsfrist: a) spezielle Vorschriften: §§ 196, 197 sowie weitere Sondernormen wie § 438 b) soweit nichts anderes bestimmt ist: Verjährungsfrist 3 Jahre, § 195 |
3. |
Beginn der Verjährungsfrist, §§ 199–201 |
4. |
Atypischer Ablauf der Verjährungsfrist a) Hemmung, §§ 203–209, 213 b) Ablaufhemmung, §§ 210, 211, 213 c) Neubeginn der Verjährung, §§ 212, 213 |
5. |
Ablauf der Verjährungsfrist, beachte §§ 186–193 |
255
Der Gedanke des Vertrauensschutzes bildet auch die Grundlage der Verwirkung. Diese im Gesetz nicht ausdrücklich genannte Rechtsfigur ist von Wissenschaft und Rspr unter Berufung auf § 242 entwickelt worden. Sie bildet einen bedeutsamen Anwendungsbereich des Einwands der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens ( venire contra factum proprium, BGH NJW-RR 2004, 649, 650). Man versteht darunter Fälle, in denen sich jemand bei Ausübung eines Rechts in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten setzt und dadurch legitime Verhaltenserwartungen des Betroffenen enttäuscht.
Beispiel für widersprüchliches Verhalten:
V hat dem M Geschäftsräume auf 2 Jahre vermietet. Zusätzlich ist vereinbart, dass sich der Mietvertrag automatisch um ein Jahr verlängert, wenn nicht spätestens zwei Monate vor Ende der Mietzeit eine schriftliche Kündigung durch den einen oder den anderen Teil erfolgt. Da M vier Monate vor Ende der Mietzeit die Gelegenheit hat, andere geeignete Räume zu finden, fragt er bei V nach, ob dieser vorhabe, zu kündigen. Der Vermieter verneint. Im Vertrauen darauf lässt der Mieter die anderweitige Gelegenheit ungenutzt. Nun kündigt der Vermieter wider Erwarten gleichwohl das Mietverhältnis fristgemäß zum Ende der vereinbarten Mietzeit, obwohl ihm M keinen Anlass dafür gegeben hat. Man kann hier sagen: Zwar besteht die Befugnis des Vermieters auf Grund des Vertrags, durch eine Kündigungserklärung das Vertragsverhältnis zu beendigen. Er hat aber durch sein Verhalten ein Vertrauen des M auf die Fortsetzung des Mietverhältnisses erweckt, das er nicht ohne triftigen Grund enttäuschen darf. Die Kündigung widerspricht seinem vorhergehenden Verhalten und ist treuwidrig.
256
Bei der Verwirkungkommt zum widersprüchlichen Verhalten ein Zeitelement hinzu. Die Verwirkung setzt folglich voraus (zusammenfassend BGHZ 146, 217, 220; BGH NJW 2003, 824; BGH NJW 2014, 1230 Rn 13).
a) dass der Berechtigte das Recht eine Zeit lang nicht geltend gemacht hat, obwohl er es hätte können (Zeitmoment)und
b) dass der andere Teil sich aufgrund dieses Verhaltens des Berechtigten darauf einstellen durfte und auch eingestellt hat , das Recht werde nicht mehr geltend gemacht werden (Umstandsmoment), sowie
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