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Der hierarchische Behördenaufbau ist wichtigster Bezugspunkt für die parlamentarische Steuerung und Kontrolle des Verwaltungshandelns und für die – an apostolische Vorstellungen angelehnte[90] – Idee einer ununterbrochenen Legitimationskette vom Volk über das Parlament bis zum einzelnen Amtswalter und insoweit Grundlage bürokratischer Herrschaft im Sinne Max Webers. In der Regel ist der hierarchische Behördenaufbau auch das verfassungsrechtliche Grundmodell.[91] Abweichungen von diesem Modell bedeuten nach verbreiteter Ansicht daher eine Entdemokratisierung des Verwaltungshandelns[92] und sind insoweit rechtfertigungsbedürftig.[93]
aa) Unmittelbare Staatsverwaltung
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Die – in deutscher Terminologie unmittelbare – Staatsverwaltung ist typischerweise mehrstufig aufgebaut und in ihren Grundzügen häufig verfassungsrechtlich vorgegeben.[94] Die Ansiedelung der nachgeordneten Behörden und Einrichtungen an der Peripherie[95] orientiert sich in der Regel an den Untergliederungen des jeweiligen Staates. Die Zuständigkeiten der nachgeordneten und insoweit näher am Bürger angesiedelten Behörden ist in den vergangenen Jahren in fast allen Verwaltungsrechtsordnungen ausgebaut worden ( Dekonzentration , déconcentration ).[96]
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Die konkrete Ausgestaltung des mehrstufigen Verwaltungsaufbaus variiert erheblich zwischen den einzelnen Verwaltungsrechtsordnungen. In Deutschland findet man sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene eine idealtypisch dreistufige Verwaltung mit obersten (Ministerien), mittleren und unteren Verwaltungsbehörden;[97] in Frankreich gliedert sich die Verwaltung heute in Ministerien und Präfekten ( préfets ), die auf der Ebene der 101 Departements eingesetzt sind, sowie in Arondissements . Auch wenn sich seine Aufgaben und Funktionen im Zuge der Dezentralisierung seit Anfang der 1980er-Jahre geändert haben, bildet der préfet seit napoleonischer Zeit (1800) das Rückgrat der französischen Verwaltung in der Fläche[98] und war Vorbild für viele andere Verwaltungsrechtsordnungen.[99] Kleinere Staaten wie Griechenland verfügen im Kern über eine zweistufige staatliche Verwaltung.[100] Alle Verwaltungsrechtsordnungen kennen darüber hinaus eine Fülle von der Regierung oder einzelnen Ministerien nachgeordneten Sonderbehörden.
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Einen Sonderfall stellt auch insoweit Großbritannien bzw. England dar, dessen Verwaltungsorganisation durch ein hohes Maß an Flexibilität und Experimentierfreude sowie eine „verwirrende Vielfalt“ von Behörden gekennzeichnet ist, deren Bestand und Zuschnitt kontinuierlich verändert wird. Neben den Ministerien und den Agenturen (dazu unter bb) gibt es derzeit 199 executive non-departmental public bodies , 448 advisory non-departmental public bodies und 40 tribunal non-departmental public bodies .[101]
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Das Modell der hierarchisch gegliederten Staatsverwaltung ist nach dem Zweiten Weltkrieg unter Druck geraten. Während es in den Bundesstaaten schon immer ein Nebeneinander zentral- und gliedstaatlicher Verwaltungsorganisation gegeben hat,[102] sehen die Verfassungen heute auch in Einheitsstaaten wie Frankreich, Italien oder Spanien Untergliederungen des Staates mit eigener Rechtspersönlichkeit vor.[103] Sie statuieren Organisationsprinzipien wie Autonomie, Dezentralisierung[104] oder ein Subsidiaritätsprinzip,[105] die die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Verwaltungsebenen steuern.
bb) Agenturen und andere unabhängige Behörden
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In gewisser Weise einen Fremdkörper in der staatlichen Verwaltung bilden die an amerikanische oder skandinavische Vorbilder angelehnten Agenturen und andere unabhängige Behörden .[106] Vorläufer unabhängiger Agenturen gab es in Großbritannien mit den sogenannten boards bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; sie mussten später allerdings der hierarchisch gegliederten Ministerialverwaltung weichen. In Deutschland spielten unabhängige Behörden früher nur eine randständige Rolle; ob die Bundesbank vor ihrer Eingliederung in das Europäische System der Zentralbanken wirklich unabhängig war, blieb bis zum Schluss umstritten.[107] In Frankreich haben die autorités administratives indépendantes seit den späten 1970er-Jahren größere Verbreitung gefunden,[108] in anderen Verwaltungsrechtsordnungen sind sie nach und nach ebenfalls anerkannt, mitunter sogar in der Verfassung verankert worden.[109]
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Die größte Bedeutung haben Agenturen und unabhängige Behörden heute aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben im Bereich der Regulierungsverwaltung [110] und des Datenschutzes .[111] Sie unterliegen grundsätzlich keinen Weisungen der Regierung und folgen auch bei der Rekrutierung ihres Personals besonderen Regelungen. Ihre Eigenarten – weitgehende Unabhängigkeit gegenüber der politischen Führung, gerichtlich nur beschränkt überprüfbare Beurteilungsspielräume – haben etwa in Italien dazu geführt, dass sie keiner der traditionellen Staatsgewalten zugeordnet werden.[112]
c) Verwaltungsträger mit Autonomie
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Verwaltungsaufgaben werden ferner von dem Staat nachgeordneten Gebietskörperschaften (dazu unter aa) und sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts (dazu unter bb) erledigt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie über eine Repräsentativkörperschaft verfügen, die in der Regel mit Rechtsetzungsbefugnissen ausgestattet und für die wesentlichen Entscheidungen zuständig ist. Aus Gründen des demokratischen Prinzips oder funktional äquivalenter Grundsätze unterliegen sie dabei der Aufsicht der Regierung,[113] die meist eine Rechtsaufsicht ist,[114] unter besonderen Umständen aber auch als Fachaufsicht ausgestaltet sein kann.
aa) Gebietskörperschaften
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Eine besondere Nähe zur staatlichen Verwaltung weisen die vom Staat zu unterscheidenden Gebietskörperschaften auf, d.h. Regionen , Wojewodschaften , Departements , Provinzen , Kreise, Städte und Kommunen .[115] Obwohl es namentlich in den Einheitsstaaten schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vielfach den Wunsch nach Dezentralisierung gab und in den nationalen Verfassungen teilweise sogar ein Dezentralisierungsprinzip niedergelegt ist, sollte seine Verwirklichung noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dauern.[116] Seit den 1970er-Jahren ist die Bedeutung der nachgeordneten, mit Autonomie ausgestatten Gebietskörperschaften in den meisten Verwaltungsrechtsordnungen freilich stark gestiegen. Darauf deutet nicht zuletzt auch die Anerkennung der regionalen und lokalen Selbstverwaltung in Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV hin.
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Die kommunale Selbstverwaltung kann auf unterschiedliche Traditionslinien zurückgreifen. Sie besitzt Vorläufer in den Hansestädten und freien Reichsstädten des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, lässt sich aber auch für das byzantinische Kaiserreich nachweisen.[117] Während der Herausbildung des modernen Verfassungsstaates in Deutschland wurde die kommunale Selbstverwaltung ursprünglich als eine den Grundrechten vergleichbare „natürliche“ Freiheit begriffen;[118] diese Sicht wurde nach 1949 jedoch von einem „etatistischen“ Verständnis der Selbstverwaltung verdrängt, das in den Kommunen heute primär Träger mittelbarer, d.h. dezentralisierter Staatsverwaltung sieht (Art. 28 Abs. 1 und 2 GG).[119] Das trifft sich mit der Sicht einheitsstaatlicher, mittlerweile aber dezentralisierter Verwaltungsrechtsordnungen, wie sie sich in Frankreich, Griechenland (Art. 102 Abs. 1 Verf.) oder Polen finden. In Italien werden die Kommunen sogar zur Staatsverwaltung gezählt,[120] in Großbritannien ist ihre Stellung nach dem Zerfall entsprechender Constitutional Conventions Ende des 20. Jahrhunderts prekär.[121]
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