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Dem Legalitätsprinzip wird – soweit ein solcher nicht, spezifischer, aus den betroffenen (Grund-)Rechten abgeleitet wird[50] – seit geraumer Zeit auch der Grundsatz entnommen, dass die öffentliche Verwaltung durch sie verursachte Schäden zu ersetzen hat. Die (Weiter-)Entwicklung des Legalitätsprinzips geht insoweit „einher mit der zunehmenden Anerkennung des Grundsatzes der Staatshaftung“.[51]
2. Rechtssicherheit und Vertrauensschutz
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Die Verlässlichkeit des Rechts ist Grundbedingung einer rechtsstaatlichen Ordnung.[52] Ob das Prinzip der Rechtssicherheit und der aus ihm resultierende Grundsatz des Vertrauensschutzes vor diesem Hintergrund aus dem Rechtsstaatsprinzip oder einzelnen Grundrechten abgeleitet werden, ob sie kodifiziert sind oder auf Richterrecht beruhen – sie sind allen Verwaltungsrechtsordnungen Europas gemeinsam,[53] das Verwaltungsrecht der Europäischen Union selbst eingeschlossen.[54]
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Klassisch rechtsstaatlicher Provenienz ist das von Peter Lerche aus dem Polizeirecht destillierte Übermaßverbot[55] bzw. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Er zielt mit den Kriterien der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit bzw. Zumutbarkeit auf die Gewährleistung von Einzelfallgerechtigkeit[56] und gilt längst nicht mehr nur beim Vollzug von Gesetzen, sondern hat – zunächst in Deutschland – das gesamte öffentliche Recht durchdrungen. Im Laufe der Zeit ist er sowohl vom Recht der Europäischen Union[57] als auch von vielen nationalen Verwaltungsrechtsordnungen rezipiert worden, wenn auch zumeist in einer weniger ausdifferenzierten Form.[58]
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Die Verankerung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – als eigenständiges Prinzip, als Teil des Rechtsstaatsprinzips oder Ausfluss der jeweils betroffenen Grundrechtsverbürgung – changiert zwischen den einzelnen Verwaltungsrechtsordnungen. Das kann für seine Entfaltung im Einzelfall erhebliche Konsequenzen haben. Denn nur in der Relation zu einem konkret betroffenen Schutzgut lassen sich insbesondere die Kriterien der Erforderlichkeit und der Angemessenheit mit einem eigenständigen rationalen Gewicht versehen.[59]
4. Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität
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Eine verwaltungsrechtliche Konsequenz des vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfalteten Sozialstaats sind die Prinzipien der Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Zwar variiert ihre Bezeichnung in den einzelnen Verwaltungsrechtsordnungen. Für die Ausgestaltung von Leistungsverwaltung und Daseinsvorsorge ( service public ) sind sie jedoch ebenso prägend wie für die Rechtsstellung des Einzelnen gegenüber der Verwaltung.[60]
5. Kontrolle der Verwaltung
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Im demokratischen Rechtsstaat gehört die gegenseitige Kontrolle der Gewalten, ein System von checks and balances , zum unverzichtbaren institutionellen Design. Das gilt auch für die Verwaltung, die zum einen der Kontrolle von Regierung und Parlament unterliegt, zum anderen der Kontrolle durch die Gerichte. Diese hat sich – trotz unterschiedlicher Ausgangsbedingungen – als wesentliche Triebfeder für die Entwicklung des Verwaltungsrechts erwiesen. In Deutschland gilt das schon für das Preußische Oberverwaltungsgericht, seit den 1950er-Jahren für Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht, die vor allem die Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG als formelles Hauptgrundrecht bis in das Verwaltungsverfahrensrecht hinein entfaltet haben, in Frankreich für die maßstabssetzende Rechtsprechungstätigkeit des Conseil d'État .[61]
6. Sonstige Prinzipien und Grundsätze
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In einzelnen europäischen Verwaltungsrechtsordnungen lassen sich darüber hinaus weitere Prinzipien identifizieren.[62] Auch wenn sie teilweise im Unionsoder sogar im Völkerrecht Niederschlag gefunden haben, so ist es doch (noch) nicht möglich, sie auch als den europäischen Rechtsraum in seiner Gesamtheit prägende Grundsätze des Verwaltungsrechts zu qualifizieren. So findet etwa das aus dem deutschen Umweltrecht stammende Vorsorgeprinzip zwar „Nachbilder“ im unionalen[63] und amerikanischen Recht ( precautionary principle ); im Verwaltungsrecht der anderen Mitgliedstaaten ist es jedoch kaum präsent. Auch das aus der deutschen Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts entlehnte Prinzip der Nachhaltigkeit , das „zu einer Intensivierung integrativer, finaler und prozeduraler Ansätze“ sowie zu einem Bedeutungszuwachs planerischer Elemente führen kann[64] und in der Schweiz sogar in die Verfassung übernommen worden ist (Art. 2 Abs. 2 BV),[65] ist in der Mehrzahl der europäischen Verwaltungsrechtsordnungen nicht nachweisbar. Das in Italien mit Verfassungsrang ausgestattete Prinzip des „ buon andamento “ – d.h. die Verpflichtung der Verwaltung auf das Legalitätsprinzip, Effizienz, Wirtschaftlichkeit, Unparteilichkeit, ein gerechtes Verfahren, Sachlichkeit, eine ausreichende Sachverhaltsermittlung sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz[66] – findet zwar gewisse Parallelen in dem in Art. 41 GRCh verbrieften Recht auf gute Verwaltung. Nur wenige Verwaltungsrechtsordnungen kennen jedoch ein vergleichbar umfassendes und daher notgedrungen auch etwas diffus bleibendes Rechtsprinzip.
Einführung› § 73 Grundzüge des Verwaltungsrechts in Europa – Problemaufriss und Synthese› IV. Grundlagen der Verwaltung
IV. Grundlagen der Verwaltung
1. Eigenständigkeit der Verwaltung
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Die öffentliche Verwaltung ist als Teil der Exekutive eine eigenständige, demokratisch legitimierte Staatsgewalt bzw. ein Teil davon. Ihre Hauptaufgabe ist der Vollzug von Gesetzen, Rechtsverordnungen und Satzungen. Darüber hinaus verfügt sie – abhängig von ihrer Stellung im jeweiligen nationalen Institutionengefüge – meist auch über einen Bereich bzw. unentziehbaren Kern exekutivischer Eigenverantwortung sowie über Gestaltungs-, Einschätzungs-, Beurteilungs- und Ermessensspielräume.
a) Die Verwaltung zwischen Gesetzesvollziehung und Gestaltung
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Idealtypisch kann zwischen den Leitbildern einer eher gesetzesvollziehenden (dazu unter aa) und einer eher autonom gestaltenden (dazu unter bb) Verwaltung unterschieden werden, die sich in ihrer konkreten Ausgestaltung allerdings erkennbar annähern (dazu unter cc).
aa) Typus der gesetzesvollziehenden Verwaltung
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Zum Typus der eher gesetzesvollziehenden Verwaltung gehören u.a. die deutsche, griechische, italienische und österreichische Verwaltungsrechtsordnung. Sie folgen dem Leitbild einer eng an das Parlament angebundenen, gesetzlich stark determinierten Verwaltung, was Beurteilungs- und Ermessensspielräume der Verwaltung allerdings nicht ausschließt. Wesentliche Grundlage für die Entwicklung dieses Verwaltungsleitbildes war, dass – entsprechend der auf das 19. Jahrhundert zurück gehenden Konzeption des liberalen Rechtsstaats – Eingriffe in Freiheit und Eigentum der Bürger einer gesetzlichen Grundlage bedurften bzw. nach wie vor bedürfen („ Vorbehalt des Gesetzes “, „ riserva di legge “).[67] Ein Totalvorbehalt des Gesetzes ist damit nur in wenigen Verwaltungsrechtsordnungen verbunden;[68] in der Regel ist auch in den Verwaltungsrechtsordnungen, die dem Leitbild einer gesetzesvollziehenden Verwaltung verpflichtet sind, eine eigenständige Rechtsetzung der Verwaltung, eine gesetzesfreie Verwaltung [69] und eine privatwirtschaftliche Tätigkeit der Verwaltung in mehr oder weniger engen Grenzen zulässig.
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