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Das traditionelle Bild der Verwaltung in Europa hat sich nach 1989/1990 vor allem durch eine Welle von Privatisierungen grundlegend verändert.[142] Teils aus eigenem Antrieb, teils durch das Unionsrecht gedrängt, sind wichtige Bereiche der öffentlichen Verwaltung in private Rechtsträgerschaft überführt worden. Teilweise wurde dabei nur die Rechtsform geändert, teilweise haben die Staaten privaten Investoren auch eine Beteiligung an den privatrechtlich organisierten Unternehmen ermöglicht, die sich dadurch zu gemischt-wirtschaftlichen Unternehmen gewandelt haben. Nur in seltenen Fällen haben sich die Staaten aus einem Aufgabenbereich tatsächlich vollständig zurückgezogen und nicht nur ihre Erfüllungs-, sondern auch ihre Gewährleistungsverantwortung aufgegeben.
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So wurden – wenn auch in sehr unterschiedlichem Umfang – in den meisten Verwaltungsrechtsordnungen die großen Verwaltungsmonopole im Bereich der Energieversorgung und der Telekommunikation privatisiert, ebenso Post und Bahn, teilweise auch die nationalen Fluggesellschaften.[143] Die dort ursprünglich bestehenden Verwaltungen wurden in Gesellschaften des Privatrechts überführt. Ihren beherrschenden Einfluss auf die Unternehmen haben die Staaten jedoch überwiegend behalten.
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In der Mehrzahl der europäischen Verwaltungsrechtsordnungen ist der öffentliche Dienst durch ein Nebeneinander von Beamten (dazu unter a) und auf privatrechtlicher Grundlage Beschäftigten (dazu unter b) geprägt. Für das Beamtentum gilt in der Regel ein – in seinen Grundzügen verfassungsrechtlich vorgezeichnetes, in den territorialen Untergliederungen der Staaten im Detail mitunter differenziertes[144] – Sonderregime, das seit den 1980er-Jahren immer wieder Gegenstand von Reformüberlegungen ist (dazu unter c).
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Die Einrichtung eines in einem besonderen Dienst- und Treueverhältnis zum Staat stehenden, lebenslang beschäftigten und persönlich unabhängigen Berufsbeamtentums lässt sich – mit Unterschieden im Detail – für die meisten Verwaltungsrechtsordnungen in Europa nachweisen.[145] Ihm obliegt typischerweise die Unterstützung der Staatsleitung durch die Ministerialverwaltung sowie die Ausübung hoheitlicher Gewalt in Militär, Polizei, Verwaltung und Justiz. Obgleich häufig ein Teil des monarchischen Erbes, wird das Beamtentum heute als personalwirtschaftlicher Garant für eine demokratisch und rechtsstaatlich rückgebundene Verwaltung begriffen.[146] Das französische Verwaltungsrecht stellt das Beamtentum in den Dienst des service public ; zugleich soll es die Unabhängigkeit der Verwaltung sicherstellen, was als Voraussetzung dafür angesehen wird, dass diese ihre Kenntnisse auch bestmöglich einsetzen kann.[147] In Deutschland, Griechenland, Italien, Polen und Spanien ist die Existenz eines besonderen Berufsbeamtentums sogar unmittelbar in der Verfassung verankert.[148]
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Prägend für die Rechtsverhältnisse der Beamten sind Loyalität , Unparteilichkeit und die Verwirklichung des Leistungsprinzips, das sowohl bei der Anstellung als auch bei Beförderungen Beachtung verlangt.[149] Dies stärkt die Unabhängigkeit des öffentlichen Dienstes von der Politik, deren Einfluss vielfach als schädlich angesehen wird.[150] Als größtes Hindernis für die Verwirklichung des Leistungsprinzips gilt daher vor allem die Ämterpatronage durch die politischen Parteien.[151] In einer Reihe von Verwaltungsrechtsordnungen sollen Spitzenpositionen von der Regierung hingegen durchaus auch „politisch“ besetzt werden.[152]
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Den Staat bzw. den Dienstherrn trifft in der Regel eine besondere Fürsorgepflicht für seine Beamten. Sie können sich heute zudem, wie andere Beschäftigte, gegenüber dem Dienstherrn auf ihre Grundrechte berufen und gegen ihn klagen. Auch wenn einzelne Beschränkungen fortdauern – so genießen Beamte in Deutschland, anders als in Frankreich oder Griechenland,[153] kein Streikrecht[154] –, ist die Konzeption des besonderen Gewaltverhältnisses nach dem Zweiten Weltkrieg doch nach und nach aufgegeben worden.[155]
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Unter dem Einfluss der Europäisierung ist es in vielen Verwaltungsrechtsordnungen zu einer Öffnung und Neuausrichtung des Beamtenrechts gekommen, da der Europäische Gerichtshof in den 1980er-Jahren damit begonnen hat, den heute in Art. 45 Abs. 4 AEUV verankerten Vorbehalt für die öffentliche Verwaltung restriktiv auszulegen und nur noch auf solche Funktionen anzuwenden, die entweder unmittelbar der Staatsleitung oder der Ausübung hoheitlicher Befugnisse zuzuordnen sind.[156] Als Reaktion hierauf haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union den Beamtenstatus entweder von vornherein auf die von Art. 45 Abs. 4 AEUV erfassten Fälle beschränkt[157] oder ihn im Wesentlichen auch für Unionsbürger anderer Mitgliedstaaten geöffnet.[158]
b) Arbeitsrechtliche Rechtsverhältnisse
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Soweit das allgemeine Arbeitsrecht nicht, wie etwa in Großbritannien, ohnehin Anwendung findet, schließt es die Existenz eines Berufsbeamtentums nicht aus, dass die öffentliche Verwaltung neben Beamten auch über (Tarif-)Beschäftigte verfügt, auf die in der Regel die allgemeinen arbeitsvertraglichen Bestimmungen Anwendung finden.[159] Das zivile Arbeitsrecht empfängt hier einerseits Impulse aus dem Recht des öffentlichen Dienstes; gleichzeitig strahlt es jedoch auch auf das Beamtenrecht aus. Das hat in den Verwaltungsrechtsordnungen zu einer Nivellierung der Unterschiede zwischen Beamten und arbeitsvertraglich Beschäftigten geführt sowie zu einer zunehmenden Homogenität des öffentlichen Dienstes.[160]
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Unter dem Eindruck der seit den 1980er-Jahren forcierten Ökonomisierung nahezu aller Lebensbereiche ist auch das Beamtentum in fast allen Verwaltungsrechtsordnungen unter Druck geraten und seither immer wieder Gegenstand von Reformbemühungen,[161] deren Ziel es ist, tatsächliche oder vermeintliche Leistungsdefizite[162] zu beheben. Zu grundlegenden Systemwechseln hat dies jedoch nur vereinzelt geführt.
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Zentrales Problem für die langfristige Akzeptanz des Berufsbeamtentums ist, dass die Zuordnung der Beschäftigten zum (häufig als privilegiert empfundenen) Beamtenkorps oder zur Gruppe der Beschäftigten ohne Sonderstatus in den meisten europäischen Verwaltungsrechtsordnungen nicht immer rational erfolgt,[163] mit der Verbeamtung häufig sachfremde Motive verfolgt werden (Versorgung von Wählergruppen, Einsparung von Sozialversicherungsabgaben) und vor allem bei niedrigeren Tätigkeiten vielfach auf Angestellte zurückgegriffen wird.[164] Das erhöht nicht nur den Druck auf eine Angleichung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, sondern trägt auch zu einer nachhaltigen Delegitimierung des Beamtenstatus bei. In einigen Verwaltungsrechtsordnungen hat man daher mittlerweile vollständig auf ein mit einem besonderen Status versehenes Beamtentum verzichtet.[165]
4. Aufgaben der Verwaltung
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Die Aufgaben der Verwaltung sind vielgestaltig und einem kontinuierlichen Wandel unterworfen, was eine Erfassung praktisch unmöglich macht oder doch erheblich erschwert.[166] Alle Versuche, eine normative Staatsaufgabenlehre zu begründen, haben sich zudem als unergiebig erwiesen. Daher begnügt man sich meist pragmatisch mit einer negativen Definition: Aufgabe der Verwaltung ist alles, was nicht Gesetzgebung, Regierung oder Rechtsprechung unterfällt („Subtraktionsmethode“).[167]
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Freilich lassen sich die Verwaltungsaufgaben durchaus typisieren. So wird in Deutschland u.a. kategorial zwischen Eingriffs- und Leistungsverwaltung unterschieden, in Frankreich zwischen puissance publique und service public .[168]
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