4. Informales Verwaltungshandeln
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In einzelnen Verwaltungsrechtsordnungen hat die rechtliche Einordnung von Realakten und informalem Verwaltungshandeln, etwa die Informationstätigkeit der öffentlichen Hand durch Warnungen und Empfehlungen sowie Konsensvereinbarungen und Absprachen, eine größere Debatte ausgelöst. Während das österreichische Verwaltungsrecht das Problem jedenfalls teilweise durch die Figur des Aktes unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt systemkonform bewältigt hat,[226] markiert diese Debatte in Deutschland in gewisser Weise einen Schlusspunkt in der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts, weil sie die Wirkungen der Realakte vor allem von den (Grund-)Rechten der nachteilig Betroffenen her zu erfassen und einzudämmen versucht.[227]
5. Verfahren
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Zu den traditionellen Unterschieden zwischen dem Common law und den meisten Verwaltungsrechtsordnungen des Kontinents gehört der unterschiedliche Stellenwert des Verwaltungsverfahrens. Während das britische, aber auch das schwedische Verwaltungsrecht schon immer einen starken Akzent auf die Verfahrensförmigkeit und -richtigkeit des Verwaltungshandelns gesetzt haben,[228] konzentriert sich das Verwaltungsrecht auf dem Kontinent traditionell auf die materielle Rechtmäßigkeit der (abschließenden) Entscheidung.[229]
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Dessen ungeachtet gehören – allerdings mit teilweise substantiellen Unterschieden im Detail – Zuständigkeits- und Befangenheitsregelungen, die Anhörung der Betroffenen vor Erlass eines belastenden Verwaltungsakts, das Recht auf Akteneinsicht und auf Zugang zu den Unterlagen, die Begründungspflicht und andere Verfahrensrechte in praktisch allen europäischen Verwaltungsrechtsordnungen seit langem zu den zumindest richterrechtlich entwickelten Anforderungen an das Verwaltungsverfahren.[230]
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Zum Siegeszug des Verwaltungsverfahrens[231] hat nicht zuletzt die Rezeption des US-amerikanischen „ due process “-Gedankens erheblich beigetragen.[232] Trotzdem bleibt sein spezifischer Stellenwert bis heute diffus. Noch immer tendieren die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen dazu, Verfahrensfehler jedenfalls bei gebundenen Entscheidungen für unbeachtlich zu erklären und die Richtigkeits- und Rechtsschutzgewähr des Verwaltungsverfahrens auf diese Weise zu relativieren.[233] Diese Verfahrensblindheit des in der Regel zu einseitig auf die Effizienz des Verwaltungshandelns fixierten Gesetzgebers steht nicht nur in einem deutlichen Spannungsverhältnis zur Anerkennung des Prozeduralisierungsgedankens, sondern degradiert die verfahrensrechtlichen Anforderungen an den Erlass einer Verwaltungsmaßnahme zu folgenlos verletzbaren Ordnungsvorschriften. Das ist sowohl mit Blick auf das Legalitätsprinzip als auch im Hinblick auf die demokratische Steuerung der Verwaltung und ihre rechtsstaatliche Einhegung ein zu hoher Preis und – soweit die Durchführung des Unionsrechts in Rede steht – mit Art. 41 GRCh bzw. dem spezielleren Sekundärrecht in der Regel nicht ohne weiteres zu vereinbaren.[234]
b) Rechte der Verfahrensbeteiligten
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Wichtigstes Instrument eines rechtsstaatlichen Verfahrens ist die Anhörung der Betroffenen, bevor die Verwaltung in ihre Rechte eingreift. Alle Verwaltungsrechtsordnungen der europäischen Staaten sehen dies heute vor,[235] auch wenn die rechtlichen Grundlagen und die Sanktionen bei einer Verletzung nicht einheitlich sind.
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Zum gesicherten Bestand eines europäischen Verwaltungsverfahrens gehört darüber hinaus das Recht der Beteiligten auf Akteneinsicht und auf Zugang zu Unterlagen , das in seiner ursprünglichen Ausprägung vor allem auf die Effektivierung des Rechtsschutzes zielt.[236]
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Auch die Pflicht, Verwaltungsakte zu begründen , gehört – außer in Großbritannien[237] – meist zu den unverzichtbaren Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verwaltungsverfahren. Denn erst die Begründung ermöglicht eine effektive gerichtliche Kontrolle. Während sie im Unionsrecht – angesichts der in Rede stehenden Sachverhalte nicht verwunderlich – obligatorisch ist (Art. 296 AEUV), ist sie in Deutschland und Griechenland nur für schriftliche oder elektronische Verwaltungsakte vorgesehen (§ 39 Abs. 1 VwVfG).[238] In Italien ist die Begründungspflicht mit dem Gesetz 241/1990 geregelt worden.[239]
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Die meisten Verwaltungsrechtsordnungen kennen darüber hinaus in unterschiedlichem Umfang weitere Verfahrensgarantien zugunsten der Beteiligten, Vorschriften über die Befangenheit[240] etwa, die Anordnung der Kostenfreiheit,[241] Recht, einen verantwortlichen Vertreter für das Verwaltungsverfahren zu bestellen oder das Recht, an Behördenkonferenzen ( conferenza dei servizi ) teilzunehmen.[242]
c) Typen des Verwaltungsverfahrens
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Das Verwaltungsverfahren in Deutschland ist „einfach, zweckmäßig und zügig“ durchzuführen (§ 10 VwVfG) und in der Regel nicht förmlich. Als Sonderformen existieren nach Maßgabe spezialgesetzlicher Anordnung das förmliche Verwaltungsverfahren (§§ 63ff. VwVfG) und das Planfeststellungsverfahren (§§ 72ff. VwVfG), in dessen Zentrum eine weite Öffentlichkeitsbeteiligung steht.[243] Den meisten Verwaltungsrechtsordnungen Europas sind gesetzlich geregelte besondere Typen des Verwaltungsverfahrens hingegen fremd.[244] Wo es – wie in Frankreich oder Großbritannien – an einer Kodifikation des Verwaltungsverfahrens fehlt, könnte man allerdings auch davon sprechen, dass es so viele Typen von Verwaltungsverfahren gibt wie Verwaltungsentscheidungen.[245]
6. Europäisierung und Anpassungsbedarf
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Der Anpassungsbedarf der einzelnen nationalen Verwaltungsrechtsordnungen im Hinblick auf die Europäisierung fällt naturgemäß unterschiedlich aus. Signifikante Veränderungen haben sich etwa mit Blick auf den Ausbau der Verfahrensrechte sub specie Art. 41 GRCh und 6 EMRK, mit Blick auf den Stellenwert der Prozeduralisierung, im Hinblick auf die Gewichtung von Legalitätsprinzip und Vertrauensschutzgesichtspunkten und bei der Rekonstruktion des Vergaberechts ergeben bzw. zeichnen sich für die Zukunft ab.
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So statuiert Art. 41 Abs. 2 GRCh Ansprüche auf Anhörung, Akteneinsicht und Begründung, die nicht alle nationalen Verwaltungsrechtsordnungen kennen bzw. kannten. Er enthält damit eine Art Mindestgarantie für das Verwaltungsverfahren im europäischen Rechtsraum.[246]
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Da das Unionsrecht zudem stärker als das Verwaltungsrecht der meisten kontinentaleuropäischen Staaten auf Verfahrensförmigkeit und -gerechtigkeit ausgerichtet ist, haben Instrumente wie die Umweltverträglichkeitsprüfung[247] oder der Umweltinformationsanspruch nach der Richtlinie 90/313/EWG den Prozeduralisierungsgedanken in den Mittelpunkt eines modernen unionalen (Umwelt-)Verwaltungsrechts gerückt. Auch mit der Beteiligung der Öffentlichkeit und Instrumenten wie der Verbandsklage[248] tut sich das Unionsrecht leichter als das nach wie vor primär auf materielle Richtigkeit ausgerichtete nationale Verwaltungsrecht.
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Das Unionsrecht misst dem Legalitätsprinzip und mit ihm dem (unionalen) Vollzugsinteresse (Effektivitätsgrundsatz) ein hohes Gewicht zu; zurückstehen darf es grundsätzlich nur, wenn rechtlich geschützte Belange des Vertrauensschutzes seiner Durchsetzung widerstreiten. Das hat in Deutschland, das im Bereich des Vertrauensschutzes nach dem Zweiten Weltkrieg einen Sonderweg eingeschlagen hatte, zu einer weitgehenden Überformung der die Rücknahme von Verwaltungsakten regelnden Bestimmungen (§§ 48ff. VwVfG) in unionsrechtlichen Angelegenheiten geführt.[249]
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