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Ob und inwieweit diese, in Deutschland, Österreich und Spanien aus dem demokratischen, in Frankreich aus dem republikanischen Prinzip abgeleiteten Anforderungen auch in der Verwaltungs realität eine Rolle spielen, lässt sich nicht klar beantworten. Während in Deutschland und Österreich die Umwälzungen nach 1918, 1945 und 1989 die alten Verwaltungseliten, wenn nicht beseitigt, so doch geschwächt haben und der nach 1949 entstandene Parteienstaat und die mit ihm verbundene Ämterpatronage den Selbststand der Verwaltung nachhaltig geschwächt haben, konnte sich in Frankreich in Fortführung monarchisch-etatistischer Traditionen seit dem 19. Jahrhundert ein „ pouvoir administratif “ herausbilden und erhalten, der einer parlamentarisch-politischen Steuerung der Verwaltung bis heute tendenziell zuwiderläuft.[278]
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In Großbritannien, Italien ( dirigenza amministrativa )[279] und Schweden finden sich im Übrigen sogar – in jüngerer Zeit eingeführte –Konstruktionen, die die öffentliche Verwaltung dem Einfluss der Regierung absichtlich weitgehend entziehen, um einen entpolitisierten – technokratischen – Verwaltungsvollzug sicherzustellen. Demokratiedefizite werden damit (erstaunlicherweise) nicht verbunden.[280]
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In einer dezentralisierten Verwaltungsorganisation, also gegenüber rechtlich verselbständigten, mit Autonomie ausgestatteten Körperschaften, Anstalten, Stiftungen und Unternehmen des öffentlichen Rechts erfordert die Notwendigkeit demokratischer Legitimation und Steuerung der verselbständigten Verwaltungseinheiten eine hinreichend effektive Staatsaufsicht [281] durch übergeordnete, letztlich parlamentarisch verantwortliche Stellen. Als Rechtsaufsicht ist sie auf die Kontrolle der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns beschränkt, als Fachaufsicht erstreckt sie sich auch auf dessen Zweckmäßigkeit.[282]
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Im Europäischen Verwaltungsverbund, im Agrar-, Beihilfen-, Kartell- oder Umweltrecht etwa, sind die nationalen Kontrollstrukturen in den vergangenen Jahren nachhaltig europäisiert, d.h. in eine Verbundaufsicht eingebunden worden, in deren Mitte typischerweise die auch zu Weisungen ermächtigte Kommission steht.[283] Die damit verbundenen Verantwortungs- und Rechtsschutzprobleme sind allenfalls ansatzweise aufgearbeitet; ob die Kommission mit ihren knapp 30.000 Mitarbeitern die notwendige personelle und fachliche Kapazität besitzt, diese Aufgaben auch interessengerecht zu erfüllen, wurde bislang nicht thematisiert. Die Fülle ihrer Aufgaben mit ihrem fachlichen Leistungsvermögen abzugleichen, dürfte jedoch zu einer der großen Herausforderungen für die nächsten Jahre werden.
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Auch der vor allem im Kontext der Regulierungsverwaltung vorgesehene, jedoch keineswegs auf sie beschränkte Einsatz unabhängiger Behörden und Agenturen bereitet – wie bereits dargelegt – unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Steuerung der Verwaltung Probleme. Zwar mag er der Entpolitisierung der Verwaltung dienen und unter einem technokratischen Blickwinkel plausibel oder sogar wünschenswert erscheinen;[284] dies ändert jedoch nichts daran, dass er mit erheblichen Einflussknicks, d.h. Beeinträchtigungen oder Verletzungen des Demokratieprinzips verbunden ist und letztlich auch zu einer Verletzung der auch für das Unionsrecht unantastbaren (Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV) Verfassungsidentität führen kann.[285] Es gibt daher unverkennbare Versuche, die parlamentarische Kontrolle über unabhängige Behörden wieder zu intensivieren[286] oder sie mit Hilfe von Instrumenten sicherzustellen, die jenseits der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung und der mit ihr verbundenen „ Legitimationskette “ liegen.[287]
4. Sonstige Instrumente der Verwaltungssteuerung
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Seit Ende der 1990er-Jahre setzt sich allmählich die Einsicht durch, dass sich eine demokratische und insoweit auf Akzeptanz ausgerichtete Verwaltung unter den Bedingungen eines insgesamt deutlich gestiegenen Bildungsniveaus der Bürger und ubiquitärer Kommunikationsmöglichkeiten nicht darauf beschränken kann, auf ihre Anbindung an das demokratisch beschlossene Gesetz, den Haushalt und die parlamentarische Rückbindung der Exekutive zu vertrauen. Sie bedarf vielmehr weiterer, akzeptanzsichernder oder zumindest -verstärkender Instrumente, die auch in einem juristisch-dogmatischen Sinne durchaus zum demokratischen Legitimationsniveau des Verwaltungshandelns beitragen können.[288] Dies betrifft etwa die Bildung von Selbstverwaltungseinheiten (dazu unter a), direkt-demokratische Formen der Partizipation (dazu unter b), Transparenz (dazu unter c), den Ausbau der Öffentlichkeits- und/oder Interessentenbeteiligung (dazu unter d) sowie das sogenannte New Public Management (dazu unter e).
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Häufig wird die Einräumung von Autonomie und Selbstverwaltung als ein Instrument angesehen, das Legitimations- und Steuerungsdefizite bei der Erledigung von Verwaltungsaufgaben ausgleichen kann. Das leuchtet unmittelbar ein, wenn man erkennt, dass das demokratische Prinzip seinen Bezugspunkt in der Selbstbestimmung des Einzelnen findet und dass die Einräumung von Selbstverwaltungsbefugnissen es den Betroffenen ermöglicht, ihre Angelegenheiten im Wesentlichen auch selbst zu entscheiden. Insoweit kann die Einräumung von Selbstverwaltungsbefugnissen durchaus zur Anhebung des demokratischen Legitimationsniveaus beitragen.[289]
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Auch Formen der direkten Demokratie haben in den vergangenen Jahren europaweit an Bedeutung gewonnen. Volksbegehren und Volksentscheide, Volksinitiativen und Volksabstimmungen, Referenden und andere Formen der plebiszitären Willensbildung sind in vielen Verwaltungsrechtsordnungen mittlerweile eine wichtige Grundlage, um den Bürgern Einfluss auf die Verwaltung zu eröffnen. Werden sie wie in der Schweiz mit dem sogenannten Vernehmlassungsverfahren gekoppelt, so eignen sie sich auch als Instrumente der Konfliktschlichtung und der Kompromissbildung.[290] In Deutschland finden sich Formen der direkten Demokratie bislang nur auf Landesebene; von ihnen wird regional sehr unterschiedlich Gebrauch gemacht. In Frankreich wurden die Möglichkeiten für Volksbefragungen und Referenden durch die Verfassungsänderung vom 28.3.2003 eröffnet bzw. ausgebaut.[291]
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Vor allem auf kommunaler Ebene spielt die direkte Demokratie eine wichtige Rolle für das Verwaltungsrecht. In Deutschland, Polen und der Schweiz prägen heute Bürgerversammlungen, Bürgeranträge, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide das politische Leben vor Ort, etwa im Bauplanungsrecht oder in der Verkehrspolitik.[292]
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Auf Unionsebene ist in diesem Zusammenhang die Initiative „ Right2Water “ zu nennen, die erste europäische Bürgerinitiative nach Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 EUV und Art. 24 Abs. 1 AEUV, die sich mit Erfolg für eine Herausnahme der Wasserversorgung aus dem Entwurf einer Konzessionsrichtlinie eingesetzt hat.
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Die Transparenz der Verwaltung ist eine wesentliche Voraussetzung für ihre demokratische Steuerungsfähigkeit. In Schweden bereits seit dem 18. Jahrhundert anerkannt[293] und in den USA spätestens mit dem Freedom of Information Act von 1966 etabliert, tun sich viele europäische Verwaltungsrechtsordnungen nach wie vor schwer mit dem Paradigmenwechsel von der ursprünglich grundsätzlich geheimen zu einer grundsätzlich öffentlichen und transparenten Verwaltung.[294] Ob es sich bei diesem Grundsatz, wie die italienische Corte costituzionale meint,[295] tatsächlich bereits um einen den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen in Europa zu entnehmenden Rechtsgrundsatz handelt, mag dahinstehen. Tatsache ist jedoch, dass es sich – angetrieben nicht zuletzt durch den unionsrechtlich vorgegebenen Umweltinformationsanspruch (Richtlinien 90/313/EWG und 2003/4/EG) – um eine gemeineuropäische, auch primärrechtlich verankerte (Art. 11 Abs. 2 EUV, Art. 14 AEUV) Konzeption handelt, die die einzelnen Verwaltungsrechtsordnungen nach 1990 teils allgemein, teils auch nur für bestimmte Referenzgebiete kodifiziert haben.[296] Überwiegende öffentliche Interessen wie auch Belange des Datenschutzes können das Transparenzgebot begrenzen.
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