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Im Bereich des Vergaberechts schließlich hat das Unionsrecht vielfach zu einer rechtsstaatlichen Durchdringung und jedenfalls bereichsspezifischen Rekonstruktion des Verwaltungsvertragsrechts gezwungen. Für die meisten nationalen Verwaltungsrechtsordnungen lassen sich heute insoweit spezifische Gesetze nachweisen, die den wesentlichen Grundsätzen des unionalen Vergaberechts – Transparenz, Diskriminierungsfreiheit und die Anerkennung individueller Rechte der Bieter – Rechnung zu tragen suchen.[250] Diese Europäisierung war so erfolgreich, dass sich mittlerweile die Frage stellt, ob sie nicht eine übermäßige Bürokratisierung des Rechtsgebietes bewirkt hat, die nicht zuletzt auch für das Scheitern mancher Großprojekte verantwortlich zeichnet.
Einführung› § 73 Grundzüge des Verwaltungsrechts in Europa – Problemaufriss und Synthese› VI. Verwaltungsrecht und Demokratieprinzip
VI. Verwaltungsrecht und Demokratieprinzip
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Öffentliche Verwaltung im europäischen Rechtsraum bedarf der demokratischen Legitimation und Kontrolle. Dies setzt – um die Zurechnung der Verwaltungstätigkeit zum Volk zu gewährleisten – typischerweise eine effektive politische Steuerung voraus. In Deutschland, wo dieser Gesichtspunkt in den vergangenen 20 Jahren wohl am intensivsten diskutiert worden ist,[251] verlangt die Rechtsprechung insoweit ein hinreichendes demokratisches Legitimationsniveau , das mit Hilfe institutioneller, materieller (sachlich-inhaltlicher) oder personeller Legitimationsmechanismen sichergestellt werden kann[252] und dessen Absenkung, sogenannte Einflussknicks ,[253] der Rechtfertigung bedarf.
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Instrumente demokratischer Legitimation und Kontrolle der Verwaltung und ihrer politischen Steuerung sind das Gesetz (dazu unter 1.), das Budget (dazu unter 2.) und die Ausübung von Aufsichts- und Weisungsrechten (dazu unter 3.) sowie der Rückgriff auf sonstige Steuerungsinstrumente (dazu unter 4.). Soweit deren Leistungsfähigkeit in den vergangenen Jahrzehnten nachgelassen hat, bieten sich weitere Instrumente zum Ausgleich von Einflussknicks an (dazu unter 5.).
1. Gesetz
a) Zentrales Steuerungsinstrument der parlamentarischen Demokratie
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Unverändert ist das Gesetz das wichtigste Instrument zur Steuerung der Verwaltung durch das Parlament. Das parlamentarisch beschlossene Gesetz ist insoweit nicht nur ein Instrument zur Bindung und Beschränkung der Exekutive, sondern auch zur Verwirklichung des demokratisch gebildeten Mehrheitswillens durch die Verwaltung ( Legalitätsprinzip , Vorrang des Gesetzes ).[254] Je enger das Gesetz das Verwaltungshandeln bindet, je bestimmter es ausfällt ( Bestimmtheitsgebot ), umso intensiver und präziser ist auch die parlamentarische Steuerung der Verwaltung, umso höher das demokratische Legitimationsniveau ihrer Entscheidungen.[255] Dabei ist Verwaltung, die sogenannte gesetzesakzessorische Verwaltung eingeschlossen, natürlich immer auch eigenständige Konkretisierung des Rechts und insoweit mehr als bloßer Gesetzesvollzug. Diese Einsicht ist allen Verwaltungsrechtsordnungen in Europa vertraut.[256]
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Als zentrales Steuerungsinstrument der Verwaltung in der parlamentarischen Demokratie erhält das Gesetz durch den Vorbehalt des Gesetzes („ riserva di legge “) eine noch größere Bedeutung. Ursprünglich auf Eingriffe in Freiheit und Eigentum bezogen,[257] wurde dieses Institut in Deutschland mit der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten sogenannten Wesentlichkeitsdoktrin seit den 1970er-Jahren auf alle für das Zusammenleben in der Gesellschaft bedeutsamen Fragen ausgedehnt und entsprechende Maßnahmen an eine hinreichend bestimmte gesetzliche Ermächtigung gebunden.[258] Das kann im Einzelfall auf einen Parlamentsvorbehalt hinauslaufen und hat der Einsicht den Weg geebnet, dass sich der Vorbehalt des Gesetzes auch unter dem Blickwinkel des Demokratieprinzips (re-)konstruieren lässt.[259] Eine in gewisser Weise parallele, weil den Anwendungsbereich des Vorbehalts des Gesetzes ausdehnende Entwicklung lässt sich für Italien und die Rechtsprechung der Corte costituzionale nachweisen.[260]
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Waren die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und ihre Konkretisierung im Vorrang und im Vorbehalt des Gesetzes ursprünglich ein Produkt des Konstitutionalismus und Kern des Rechtsstaatsprinzips im formalen Sinne schlechthin,[261] so haben sie nach 1945 eine zusätzliche Verankerung im Demokratieprinzip erfahren.[262] Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, dass auch wesentliche Organisationsentscheidungen wie die Gründung juristischer Personen des öffentlichen Rechts oder die Beleihung Privater einem institutionellen Gesetzesvorbehalt unterliegen.[263]
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Die Steuerung der Verwaltung durch das Gesetz erfolgt zwar idealtypisch mit Hilfe abstrakt-genereller Regelungen. Der Gesetzgeber kann allerdings auch zur Regelung konkret-individueller Einzelfälle Gesetze erlassen – Maßnahmegesetze ( leggi provvedimenti )[264] oder Planungs- und Investitionsmaßnahmegesetze[265] – und auf diese Weise materiell verwaltend tätig werden. Um die damit verbundene Verkürzung des Rechtsschutzes auszugleichen, sind einige Verfassungsgerichte dazu übergegangen, materielle Anforderungen an das Verwaltungshandeln wie das Abwägungsgebot u.ä. auch an derartige Gesetze zu stellen.[266]
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Konstitutionalisierung, Europäisierung, Internationalisierung und Privatisierung haben die Steuerungskraft des Gesetzes geschwächt. Vor allem der Anwendungsvorrang des Unionsrechts hat dazu beigetragen, dass sich das parlamentarische Gesetz vom vorrangigen Steuerungsinstrument der Verwaltung mehr und mehr zu einem Zufallsgenerator gewandelt hat und die Institute des Vorrangs und Vorbehalts des Gesetzes erodieren.[267] Die demokratische Steuerung der Verwaltung wird damit zunehmend prekär.
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Begrenzte Möglichkeiten der Gegensteuerung bietet die Beteiligung der nationalen Parlamente an der europäischen Rechtsetzung in der sogenannten aufsteigenden Phase ( upstream phase , fase ascendente ), wie sie heute in Art. 12 EUV und den Protokollen über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union und über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit niedergelegt und mittlerweile auch in fast allen Verfassungen der Mitgliedstaaten der EU verankert ist.[268]
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Die Bewilligung des Budgets und seine Ausgestaltung im Detail ermöglichen dem Parlament eine wirkungsvolle Steuerung der Verwaltung. Mit dem Haushalt, der teilweise im Wege eines Haushaltsgesetzes festgestellt wird,[269] entscheidet das Parlament über die personellen und sachlichen Ressourcen der Verwaltung sowie über Art und Umfang der nicht gesetzesakzessorischen Leistungsverwaltung.[270]
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Durch eine kontinuierliche Begleitung des Haushaltsvollzuges, Rechnungskontrolle und Entlastung, in einigen Verwaltungsrechtordnungen auch durch Genehmigungserfordernisse für größere Dispositionen u.a.m.[271] kontrollieren die Parlamente in der Regel durch besondere Ausschüsse ferner die Ausführung des Budgets und üben auf diese Weise einen nicht geringen Einfluss auf die Verwaltung aus.[272]
3. Bürokratische Steuerung der Verwaltung
a) Weisungsabhängigkeit der Verwaltung
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Ein wichtiger Aspekt der demokratischen Legitimation der Verwaltung ist ihre Kontrolle durch Regierung und Parlament. Zentrale Bedeutung kommt dabei zum einen der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung zu,[273] die sich durch ein Bündel von Informations-, Kontroll- und Sanktionsbefugnissen des Parlaments gegenüber der Regierung auszeichnet,[274] zum anderen der Unterordnung der Verwaltung unter die Regierung.[275] Die parlamentarische Steuerung und Kontrolle der Verwaltung setzt daher grundsätzlich einen hierarchischen Verwaltungsaufbau und eine Legitimationskette zwischen dem Minister und seinen nachgeordneten Mitarbeitern voraus sowie eine effektive (Dienst-)Aufsicht der übergeordneten und Weisungsabhängigkeit der nachgeordneten Behörden.[276] Abweichungen von diesem Modell bedürfen zumindest sachlicher Gründe.[277]
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