Inhaltsverzeichnis
I. Die Straftatbestände der AO
II. Straftatbestände außerhalb der AO
III. Steuerordnungswidrigkeiten
IV. Einzelfragen zum materiellen Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrecht
V. Klassische Hinterziehungsfälle
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Der Begriff der Steuerstraftat wird in § 369 Abs. 1 AO definiert. Strafvorschriften nach den Steuergesetzen enthalten die §§ 370 ff. AO für Bundes- und EG-Steuern (§ 1 Abs. 1 AO) und die Abgabengesetze der Länder für die Landes- und Gemeindesteuern durch Verweisung auf die §§ 369 ff. AO oder eigene Strafvorschriften.[1] Die Nennung der Zollstraftaten in § 369 Abs. 1 AO hat nur klarstellende Funktion, da Zölle gem. § 3 Abs. 3 AO ebenfalls Steuern i.S. der AO sind.[2]
[1]
Vgl. FGJ- Joecks Einl. Rn. 107.
[2]
Vgl. FGJ- Joecks § 369 Rn. 8.
Teil 2 Die Tatbestände des Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrechts› I. Die Straftatbestände der AO
I. Die Straftatbestände der AO
Teil 2 Die Tatbestände des Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrechts› I. Die Straftatbestände der AO› 1. Steuerhinterziehung, § 370 AO
1. Steuerhinterziehung, § 370 AO
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§ 370 Abs. 1 AO normiert den Grundtatbestand der Steuerhinterziehung. Hierbei handelt es sich um eine bloße Blankettvorschrift; d.h. die Strafandrohung gem. § 370 AO knüpft tatbestandsmäßig an einen Pflichtenverstoß an, der in einem materiellen Steuergesetz – einem sog. Ausfüllungsgesetz – näher umschrieben wird. Ob und in welcher Höhe eine Steuerverkürzung vorliegt, kann folglich nur anhand aller im Einzelfall einschlägigen Vorschriften des Steuerrechts festgestellt werden.[1] Im Übrigen verweist § 369 Abs. 2 AO deklaratorisch auf die Geltung der allgemeinen Vorschriften des Strafrechts, soweit die Strafvorschriften der Steuergesetze nichts anderes bestimmen.[2] Aus dieser Gesetzestechnik ergibt sich die Notwendigkeit für Anklagesatz und Urteilstenor, neben § 370 AO auch die jeweiligen steuerrechtlichen Vorschriften aufzuführen, gegen die der Steuerschuldner verstoßen haben soll.[3]
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Normierungstechnik des § 370 AO werden vom BVerfG nicht geteilt.[4]
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Als geschütztes Rechtsgut wird von der h.M. das „öffentliche Interesse am vollständigen und rechtzeitigen Aufkommen der einzelnen Steuern bzw. der Steuern im Ganzen“ angesehen.[5] Daneben werden im Schrifttum abweichende Auffassungen zum Rechtsgut der Steuerhinterziehung vertreten, die im Rahmen der Strafverteidigung als Argumentationshilfen dienen können.[6]
So wird das zu schützende Rechtsgut etwa in der Gewährleistung einer gleichmäßigen und gerechten Lastenverteilung[7] gesehen; vom Schutzbereich des § 370 AO wären damit ungerechte oder gar verfassungswidrige Steuern ausgenommen.[8] Dies wirkt sich insbesondere bei der Verkürzung verfassungswidriger Steuern aus.[9] Zwar ist dieser Auffassung dahingehend zuzustimmen, dass das fiskalische Interesse des Staates nicht losgelöst von jeglichen Gleichheits- und Gerechtigkeitserwägungen – im Sinne eines notwendigen Korrektivs – betrachtet werden kann. Einschränkend wird jedoch zu Recht eingewandt, dass es an eindeutigen Gerechtigkeitsmaßstäben fehlt und das bloße Empfinden einer Ungerechtigkeit nicht zur Nichtanwendung des Gesetzes führen darf.[10] Eine andere Auffassung in der Literatur begreift – weitergehend als die h.M. – nicht etwa das Steueraufkommen bzw. die Durchsetzung der einzelnen Steueransprüche, sondern allgemein das Vermögen des Staates als vorrangig zu schützendes Rechtsgut gem. § 370 AO;[11] dadurch erlangt die wirtschaftliche Schadenskompensation – wie bei allen Vermögensdelikten[12] – eine besondere Bedeutung für die Strafmaßverteidigung.
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§ 370 Abs. 1 AO beschreibt in Ziff. 1–3 drei verschiedene Tatbestandsalternativen bzw. Begehungsweisen:
• |
unrichtige oder unvollständige Angaben über steuerlich erhebliche Tatsachen (Ziff. 1), |
• |
in Unkenntnis lassen über steuerlich erhebliche Tatsachen (Ziff. 2), |
• |
Unterlassen der Verwendung von Steuerzeichen oder Steuerstemplern (Ziff. 3). |
Durch Ziff. 2 wird klargestellt, dass auch die pflichtwidrige Nichtabgabe von Steuererklärungen als echtes Unterlassungsdelikt[13] den aktiven Begehungsformen gem. Ziff. 1 gleichgestellt ist.
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Der Strafvorwurf beruht auf einem Verstoß gegen die Aufklärungs- und Mitwirkungspflichtendes Steuerpflichtigen nach der AO und den einzelnen Steuergesetzen. Dagegen stellt die bloße Nichtzahlung einer Steuer grundsätzlich kein strafbares Verhalten dar.[14] Nur soweit steuerliche Erklärungspflichten bestehen, kommt ein tatbestandsmäßiges Handeln in Betracht; Lücken im Steuergesetz wirken sich auf das Steuerstrafrecht aus.[15] Eine Begrenzung der steuerlichen Erklärungspflichten aus dem nemo-tenetur-Prinzip enthält § 393 Abs. 1 S. 2 AO.[16]
Die unrichtigen oder unvollständigen Angaben bzw. das In-Unkenntnislassen der Finanzbehörden können sich nur auf solche Tatsachen beziehen, die steuerlich erheblichsind. Dabei setzt die Verwirklichung des Straftatbestandes jedoch keine Täuschung des zuständigen Finanzamtes voraus; vielmehr genügt es, dass die unrichtigen oder unvollständigen Angaben für die Steuerverkürzung oder einen nicht gerechtfertigten Steuervorteil ursächlich werden.[17] Selbst bei positiver Kenntnis des Finanzbehörden über die Unrichtigkeit der Angaben und über sämtliche Tatsachen, die eine richtige Steuerfestsetzung erlaubt hätten, ist der Tatbestand gem. § 370 Abs. 1 AO verwirklicht.[18]
aa) Tatsachen und Rechtsauffassung
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Tatsachen sind dem Beweis zugängliche Umstände der realen Welt, die von Werturteilen und Rechtsauffassungen abzugrenzen sind. Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich dort, wo Tatsachen – unter Zugrundelegung einer von der h.M. abweichenden Rechtsauffassung – entweder nur zusammengefasst oder teilweise weggelassen werden.[19] Zwar darf ein Steuerpflichtiger auch abweichende Rechtsauffassungen vertreten, um zu seinen Gunsten eine Änderung der Rechtsprechung herbeizuführen; zur Vermeidung eines Strafbarkeitsrisikos ist er jedoch gehalten, sämtliche steuerrechtlich relevanten Tatsachen richtig und vollständig vorzutragen.[20] Dies gilt insbesondere bei Umgehungsgeschäften i.S.d. § 42 AO, welche als solche grundsätzlich nicht strafbar sind. Allerdings ist der Straftatbestand des § 370 Abs. 1 AO dann erfüllt, wenn der Steuerpflichtige das Umgehungsgeschäft durch unrichtige oder unvollständige Angaben gegenüber den Finanzbehörden verschleiert und dadurch die Feststellung der Umgehung bzw. Minderung der Steuerpflicht verhindert oder zumindest erschwert.[21] Nur eine Mitteilung sämtlicher Tatsachen, die eine Prüfung des § 42 AO überhaupt erst ermöglichen, lässt den objektiven Tatbestand des § 370 Abs. 1 AO entfallen.
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Steuerlich erheblich sind solche Tatsachen, die zur Ausfüllung eines Besteuerungstatbestandes notwendig sind, d.h. sie müssen erforderlich sein, um Grund und Höhe des Steueranspruchs oder des Steuervorteils festzustellen. Darüber hinaus sind auch Tatsachen erheblich, welche die Finanzbehörden zur Einwirkung auf den Steueranspruch veranlassen könnten (z.B. Stundung oder Fortsetzung der Vollstreckung, Auswahl der Vollstreckungsmaßnahme).[22]
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Adressaten des Handelns oder Unterlassens i.S.v. § 370 Abs. 1 AO müssen Finanzbehörden oder andere Behörden sein. Während die Finanzbehörden in § 6 Abs. 2 AO aufgeführt sind, kommen als andere Behörden nur solche in Betracht, die für eine steuerlich erhebliche Entscheidung zuständig sein können (z.B. Bauämter oder Gemeinden).[23] Aufgrund dieses Kriteriums sind Täuschungshandlungen gegenüber Privatpersonen grundsätzlich nicht tatbestandsmäßig; etwas anderes gilt jedoch, wenn ein gutgläubiger Dritter, z.B. ein Steuerberater, unrichtige oder unvollständige Angaben mit Willen des Steuerpflichtigen an das Finanzamt oder an eine andere Behörde weiterleiten soll (mittelbare Täterschaft).[24]
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