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Gem. § 406 Abs. 1 AO kann die beantragende Finanzbehörde ihren Strafbefehlsantrag bis zur Terminierung der Hauptverhandlung gem. § 408 Abs. 3 S. 2 StPO oder bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Angeschuldigte Einspruch einlegt, zurücknehmen. Danach geht die Zuständigkeit auf die Staatsanwaltschaft über. Die Strafsachenstelle behält aber die grundsätzliche Befugnis, in der Hauptverhandlung diejenigen Gesichtspunkte vorzubringen, die aus ihrer Sicht für die strafrichterliche Entscheidung von Bedeutung sind, § 407 AO. Diese Befugnis konkretisiert sich in einem eigenständigen Anhörungs- und Fragerecht. Zur Wahrung dieser Rechte ist es erforderlich, dass durch das Gericht eine Terminmitteilung zur Hauptverhandlung erfolgt.[70] Die Strafsachenstelle kann jedoch keine prozessualen Anträge stellen. Verstöße gegen die Beteiligungsvorschrift des § 407 AO können seitens der Staatsanwaltschaft bzw. durch den Angeklagten gerügt werden.[71] Allerdings ist hierfür darzutun, dass durch eine Anhörung des Vertreters der Finanzbehörde eine weitere Sachaufklärung zu erwarten gewesen wäre. Förmliche Rechtsmittel stehen der Finanzbehörde nicht zu.
Teil 1 Allgemeine Grundfragen› V. Zuständigkeiten von Ermittlungsbehörden und Gerichten› 4. Staatsanwaltschaft
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Die Staatsanwaltschaft führt das steuerstrafrechtliche Ermittlungsverfahren in folgenden Fällen:
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in Haft- und Unterbringungssachen, § 386 Abs. 3 AO; |
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nach Abgabe der Finanzbehörde an die Staatsanwaltschaft, § 386 Abs. 4 S. 1 AO; |
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bei Evokation durch die Staatsanwaltschaft, § 386 Abs. 4 S. 2 AO; |
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wenn ein Steuervergehen mit einer allgemeinen Straftat in sachlich rechtlicher Tateinheit oder in einer prozessrechtlichen Einheitstat real zusammentrifft; |
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wenn die Sache sich zur Erledigung im Strafbefehlsverfahren nicht eignet, § 400 2. Hs. AO. |
In diesen Fällen ist die Staatsanwaltschaft und nicht die Straf- und Bußgeldsachenstelle die Herrin des Ermittlungsverfahrens.
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Die starke Stellung der Staatsanwaltschaft auch im Steuerstrafverfahren zeigt sich im Evokationsrecht. Nach § 386 Abs. 4 S. 2 AO kann die Staatsanwaltschaft jederzeit, d.h. bis zum endgültigen Abschluss des Ermittlungsverfahrens eine Steuerstrafsache an sich ziehen, um sich das Ermittlungs- und Anklagemonopol zu sichern. Auf den Stand der Ermittlungen kommt es hierbei nicht an.[72] Die Staatsanwaltschaft kann das Evokationsrecht natürlich nur dann ausüben, wenn sie von der Strafsache Kenntnis erlangt. In der Regel unterrichtet die Finanzbehörde die Staatsanwaltschaft in Fällen von besonderer Bedeutung. Kriterien hierbei sind das Gewicht der Straftat, die Persönlichkeit des Beschuldigten und seine Stellung im öffentlichen Leben oder der Sachzusammenhang mit anderen Verfahren. In den meisten Bundesländern finden regelmäßig Kontaktgespräche zwischen der Finanzbehörde und der Staatsanwaltschaft statt, in denen die Finanzverwaltung über Fälle von besonderer Bedeutung informiert.[73] Zwischen den Justizbehörden und der Finanzverwaltung existiert zumeist eine Vereinbarung, wonach die Finanzbehörden Strafsachen wegen Steuerverkürzungen „von etwa …“ (regional unterschiedlich) an die Staatsanwaltschaft abgeben sollen. Für Normalfälle kann von Verkürzungsbeträgen im Bereich von 200.000–300.000 € ausgegangen werden.[74] Grundsätzlich kann die Staatsanwaltschaft der Finanzbehörde durch Evokation jede Steuerstrafsache entziehen. Da die Staatsanwaltschaft der Finanzbehörde nicht übergeordnet ist und ihr gegenüber keine Aufsichtsbefugnisse hat, wird sie das Verfahren nur dann an sich ziehen, wenn Gründe in der Sache es zwingend verlangen oder den Zuständigkeitswechsel wenigstens zweckdienlich erscheinen lassen. Die Finanzbehörde ist jedoch verpflichtet, alle Fälle, in denen eine Evokation denkbar ist, der Staatsanwaltschaft anzudienen.[75] Dies gilt auch für Fragen der Wirksamkeit von Selbstanzeigen.[76]
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Eine besondere Form ist für die Evokation nicht vorgeschrieben. Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung ist zwar zweckmäßig, aber nicht erforderlich. Die Staatsanwaltschaft kann ihre Zuständigkeit nach § 386 Abs. 4 S. 2 AO auch konkludent begründen.[77] Mit dem Zugang der Erklärung der Staatsanwaltschaft, dass sie die Strafsache an sich zieht, verliert die Finanzbehörde die Befugnis zur selbstständigen Weiterführung der Ermittlungen. Unberührt bleiben ihre Rechte aus §§ 402 Abs. 1, 403 AO. Strittig ist, ob die Finanzbehörde bei der Abgabe einer Strafsache nach § 386 Abs. 4 S. 2 AO eine „Tat, die keine Steuerstraftat ist“ offenbaren darf. Abgabe und Evokation sind zwar durch Gesetz zugelassen, doch genügt dies nicht, um die in § 386 AO nicht ausdrücklich , wie § 30 Abs. 4 Nr. 2 AO verlangt, zugelassene Offenbarung zu legitimieren. Das öffentliche Interesse wird nur im Einzelfall die Verfolgung von Wirtschaftsstraftaten gem. § 30 Abs. 4 Nr. 5b AO erzwingen.[78] Doch lässt § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO die Offenlegung zu, wenn die Finanzbehörde Steuerstrafsachen an die Staatsanwaltschaft abgibt oder diese das Verfahren übernimmt.[79]
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§ 386 Abs. 4 lässt weder expressis verbis noch in anderer schlüssiger Weise die Durchbrechung des Steuergeheimnisses für Nichtsteuerstraftaten zu, denn § 386 AO betrifft Steuerstrafsachen. Nach § 30 Abs. 4 Nr. 2 AO ist die Offenbarung einschlägiger Kenntnisse insoweit zulässig als sie durch Gesetz zugelassen ist. Der bloße Rückschluss aus einer gesetzlichen Regelung, dass sie stillschweigend die Durchbrechung des Steuergeheimnisses gestatte, ist durch diesen Wortlaut versperrt.[80] Gleiches gilt, falls die Steuerstraftat mit dem Nichtsteuerdelikt eine prozessuale Tat i.S.d. § 264 StPO bildet. Soweit nichtsteuerliche Straftaten durch dieselbe Handlung wie Steuerstraftaten begangen wurden, lässt § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO die Offenbarung zu.[81] Besteht indes der Verdacht, dass neben der Steuerstraftat andere Straftaten in Tatmehrheit nach § 53 StGB begangen wurden, so kann eine Mitteilung nur nach § 30 Abs. 4 und 5 AO erfolgen.[82] Wie die Abgabe der Finanzbehörde an die Staatsanwaltschaft, ist die Evokation durch die Staatsanwaltschaft der Anfechtung durch den Beschuldigten nicht zugänglich.
b) Schwerpunktstaatsanwaltschaft
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Für die Verfolgung von Wirtschaftsstraftaten ist die Staatsanwaltschaft durch die Einrichtung der Schwerpunktstaatsanwaltschaften gem. § 143 Abs. 4 GVG gut gerüstet. Ob die Aus- und Fortbildung im Steuerrecht (nicht im Steuerstrafrecht) aber ausreicht, muss bezweifelt werden.[83] Ein weiteres Defizit besteht häufig in einer mangelhaften Ausstattung mit speziell steuerrechtlicher Literatur. Der Verteidiger ist daher gut beraten darauf zu achten, dass es nicht zu einer mehr oder weniger ungeprüften Übernahme von (angeblichen) Ermittlungsergebnissen der Steuerfahndung kommt und eine Auseinandersetzung mit Verteidigungsargumenten auf der steuerlichen Ebene überhaupt nicht stattfindet. Die Staatsanwaltschaft darf in steuerlicher Hinsicht nicht zum Hilfsorgan der Finanzverwaltung werden.
Teil 1 Allgemeine Grundfragen› V. Zuständigkeiten von Ermittlungsbehörden und Gerichten› 5. Gerichte
5. Gerichte
a) Sachliche Zuständigkeit
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Nach § 24 GVG ist das Amtsgericht bei Steuerstraftaten einschließlich Zusammenhangstaten sachlich zuständig, wenn nicht im Einzelfall eine höhere Strafe als 4 Jahre Freiheitsstrafe, die Unterbringung des Beschuldigten in einem Psychiatrischen Krankenhaus – allein oder neben einer Strafe – oder in der Sicherungsverwahrung zu erwarten ist (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG), oder die Staatsanwaltschaft wegen der besonderen Bedeutung des Falles Anklage zum Landgericht erhebt (§ 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG). Das Amtsgericht entscheidet entweder durch den Strafrichter, der im Vor- und im Hauptverfahren tätig wird (§ 25 GVG) oder durch das Schöffengericht in der Hauptverhandlung (§§ 25, 28 GVG).
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