Für Kinder war in dem Tanz kein Platz. und immer nur zusehen war langweilig. Tiko beschloss, die bunten Wohnwagen etwas näher in Augenschein zu nehmen.
Wirklich reich waren die Händler und Schausteller nicht, wie er von Nahem sehen konnte. Zwar waren alle Wagen bunt bemalt und die Hörner und Hufe ihrer Zugochsen frisch geölt, aber das Holz war alt und verwittert, die Ochsen so mager, dass ihre Knochen hervorstanden. Die bunten Röcke, die an einer Leine zwischen zwei Wagen flatterten, waren vielfach geflickt und der Eintopf, der in einem großen Kessel auf einem offenen Feuer vor sich hin simmerte, roch nicht, als ob viel Fleisch darin enthalten war.
Eine Frau kam aus einem der Wohnwagen, ging zum Kessel und schöpfte etwas vom flüssigen Teil des Eintopfs in eine kleine Schale, dann kletterte sie zurück in den Wagen. Tiko konnte durch die offene Tür hören, wie sie mit jemandem sprach.
„Versuch doch wenigstens, etwas zu essen. Schau, ich hab dir auch nur Brühe mitgebracht. Es tut bestimmt nicht weh. Versuch es, mir zuliebe, bitte!“
Sie bekam keine Antwort.
Warum sollte jemand nicht essen wollen? Tiko wusste absolut sicher, dass er nie, nie etwas zu essen ausschlagen würde. Irgendwie hatte er sowieso immer Hunger.
Wie auf Stichwort rumorte sein Magen. Der Eintopf hatte wohl zu gut gerochen, auch ohne Fleisch. Aber Tiko wusste, wo er Besseres bekommen würde. Er flitzte zu Musa in die Küche.
Am nächsten Tag packten die Händler bereits wieder und fuhren ab, ebenso die Dorfleute. Tikos Brüder kurierten, wie die meisten Männer der Burg, einen ordentlichen Kater, und die Frauen machten sich mit einigen Seufzern daran, die Überreste der Feuer wegzuräumen und den Hof zu säubern. Nicht alles, was sie fanden, war appetitlich, die Feier schien einigen nicht gut bekommen zu sein. Aber das war nach jedem Frühlingsfest so und sie lachten und scherzten, während sie fegten und schrubbten.
Am späten Nachmittag schmerzte plötzlich Tikos Kopf. Gegen Abend war es so schlimm, dass er nichts essen mochte. „Hast dir gestern wohl den Magen verdorben, was, Kleiner?“, scherzte Musa gutmütig. „Das nächste Mal nimmst du einen Blaubeerkuchen weniger.“
Einer der Diener platzte in die Gesindeküche, wo traditionell auch die jüngeren Kinder und Frauen des Burgherrn mit aßen. „Ich brauche einen Eimer mit heißem Wasser, schnell! Der junge Herr Kimuko hat sich erbrochen, mitten bei der Mahlzeit!“
Das würde seinem Vater ganz bestimmt nicht gefallen. Tiko war fast geneigt, Mitleid mit Kimuko zu haben. Wie viel sein Vater auch trank, von seinen Söhnen erwartete er, dass sie Maß hielten. Kimuko stand eine derbe Abreibung bevor.
Aber warum sah Musa plötzlich so besorgt aus?
„Das ist schon der vierte.“ Die Köchin flüsterte, als ob sie Sorge hatte, die Aufmerksamkeit böser Geister auf sich zu ziehen. Ihr Blick flog zu Tiko. „Oder der fünfte. Holt die Heilerin! Sofort! Und du, mein Junge, gehst sofort ins Bett!“
Normalerweise hätte Tiko mit seinen bereits neun Jahren heftig protestiert. Er war kein kleines Kind mehr, das man einfach so ins Bett schickte. Aber heute war er fast erleichtert, die Tafel verlassen zu dürfen.
Als er die Treppe zu seinem Zimmer hinaufging, stolperte er und fiel. Verdutzt blieb er auf den Stufen sitzen. Was war denn bloß mit ihm los? Diese kleine Treppe nahm er doch sonst mit wenigen Schritten!
Einer der Diener kam, sah ihn dort sitzen, hob ihn hoch und trug ihn ohne viel Federlesens in sein Zimmer. Tiko war froh, als er endlich unter der warmen Bettdecke lag. Er hatte entsetzlich zu frieren begonnen.
*
An die nächsten Tage erinnerte er sich nicht. Nur noch daran, dass er nach Luft gerungen hatte, dass sein Hals schmerzte, als er wieder erwachte, und er sich schwach fühlte wie ein neugeborenes Kitz.
Die Heilerin hatte ihm etwas eingeflößt, bitter, kratzig, aber er war so durstig gewesen, dass ihn das nicht störte.
Dann hatte sein Vater in der Tür gestanden, ihn angesehen, fast feindselig. „Warum ausgerechnet der? Warum nicht einer von den anderen? Die wären wenigstens nützlich gewesen!“
Die Tür fiel zu, sein Vater war verschwunden.
Im Blick der Heilerin hatte er Mitleid gesehen.
Halsröte. So hieß der Feind, der die Burg und das ganze Umland erobert hatte, heimtückisch und leise, noch während sie alle glücklich feierten. Die, die auf dem Fest gewesen waren, hatten die Seuche mit heimgebracht. Kein Dorf, in dem nicht Tote zu beklagen gewesen waren. Niemand, der die Krankheit nicht schon einmal mitgemacht hatte, blieb verschont. Von den Kindern überlebten die meisten. Aber die jungen Männer raffte es reihenweise dahin. Tiko war der einzige Sohn Kigatos, der überlebte.
Jetzt wusste er, was er in dem kleinen Wagen der Händler in der Festnacht gehört hatte. Die Fremden hatten den Tod mitgebracht.
Nur für die Männer. Frauen erkrankten nie an der Halsröte. Eine Tatsache, die Baron Kigato besonders übelnahm. Vier Söhne des Hauses Mehme waren tot. Die Burg hatte nur noch einen einzigen Erben: Tiko. Und eine Horde Mädchen, die er mangels ausreichender finanzieller Mittel nicht verheiraten konnte.
Natürlich erwog Kigato, sich eine neue Gattin zu nehmen und weitere Söhne zu zeugen. Das Problem war nur, dass ein Haus, das so viele Söhne verloren hatte, den potenziellen Schwiegerväter als wenig glückbringend erschien. Mal ganz zu schweigen davon, dass Kigato nur noch eine Hand hatte. Also blieb er Witwer und alleine.
Da wäre natürlich immer noch die Möglichkeit gewesen, einen seiner Bastarde mit der Dienerschaft anzuerkennen. Aber ein Mehme, der eine nichtadelige Mutter hatte?
Das ließ sein Stolz nicht zu.
Dann doch lieber diesen nichtsnutzigen, aber rechtmäßigen Nachkömmling ausbilden.
*
Tiko wurde zu seinem Vater zitiert. Das war das erste Mal, dass er erfuhr, dass mit seinem Namen etwas nicht stimmte.
„Du wirst dich anstrengen müssen. Es geht nicht an, dass das Haus Mehme von einem Mann vertreten wird, der nur zwei Silben in seinem Namen hat. Ich werde dich als Kadett bei der königlichen Garde anmelden. Sieh zu, dass du in den nächsten Jahren aufholst, was du bisher zu lernen versäumt hast. Die Garde behält nur die Besten. Und zu denen musst du gehören, damit der König dir einen längeren Namen gewährt.“
Tiko verstand die Welt nicht mehr. Was war so schlimm an einem Namen mit zwei Silben? Selbst der Hauptmann, der die Soldaten seines Vaters anführte, hatte nur zwei, und ebenso seine beiden jüngsten Schwestern.
Der Hauslehrer übernahm die undankbare Aufgabe, den jungen Burgerben aufzuklären.
„Euer Vater hatte sechzehn Kinder mit seiner rechtmäßigen Gattin. Er hat nie damit gerechnet, dass bei so vielen Nachkommen ausgerechnet sein Jüngster der Erbe sein würde. So wenig, wie er damit rechnete, dass er seine jüngeren Töchter je verheiraten könnte. Daher hat er sich die mühsame Suche nach einem passenden Namen bei seinen jüngsten drei Kindern gespart.
Das Problem ist, dass im gesamten Adel ein Name mit weniger als drei Silben undenkbar ist. Wenn Ihr also diesen Namen behaltet, wird man immer annehmen, ihr wäret von niedriger Geburt. Ein Bastard, oder, schlimmer noch, ein Bürgerlicher, der gerade erst in den Adelsstand erhoben wurde. Damit wäre es für Euch unmöglich, eine standesgemäße Ehe abzuschließen oder jemals im Reich irgendeinen höheren Posten zu bekleiden.“
Sein Vater war also der Grund für seine missliche Lage. Tiko biss die Zähne zusammen, dass sie knirschten.
*
Kampftraining mit und ohne Waffen, Schreib- und Leseübungen, lernen, lernen, lernen. In den folgenden Monden wünschte Tiko sich oft, nicht seine Brüder wären an der Halsröte gestorben, sondern er selbst.
Sein Vater redete in der ganzen Zeit nur ein einziges Mal mit ihm: Als der Baron von den Ausbildern und Lehrern wissen wollte, ob Tiko weit genug war, um Kadett zu werden. Ansonsten gingen beide, Vater wie Sohn, sich so weit wie möglich aus dem Weg und die wenigen gemeinsamen Mahlzeiten verbrachten sie schweigend.
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