Mirko hob ihr den Falken vom Arm, die Diener nahmen Selea die dicken Überkleider ab. Der Vater starrte auf ihren Bauch, als ob er Löcher hineinbrennen wollte. Sein Gesicht versteinerte zu jenem kalten, starren Ausdruck, der nach Tikos Erfahrungen äußerste Wut bedeutete. Und dann ging er auf seine Tochter los.
Tiko verkroch sich instinktiv unter dem Tisch
Sein Vater brüllte und trat, Selea schrie und ging zu Boden, und dann war plötzlich ein lautes Zischen zu hören, und sein Vater flog durch die Luft und gegen die Wand. Als Tiko wieder zu Selea sah, blieb ihm der Mund offen stehen. Über ihr stand etwas wie eine überdimensionale Eidechse mit funkelnden goldenen Augen, langen Zähnen und Flügeln. Das musste einer der sagenumwobenen Drachen sein! Aber die gab es doch nur im Norden, da, wo auch die Frostgeister lebten?
Tiko wollte gerade unter dem Tisch hervorkriechen, um dieses Wundertier näher in Augenschein zu leben, als der Drache tatsächlich redete!
„Wage es nicht, sie noch einmal anzurühren!“ Trotz des unmenschlichen Zischens war die Stimme klar verständlich. „Du nicht – und keiner deinesgleichen! Diese Frau trägt meine Brut! Sie steht unter meinem Schutz!“
Schlagartig herrschte Totenstille. Und Tiko war mehr als froh, unter dem Tisch und somit weitgehend außer Sicht zu sitzen.
Der Drache sprach weiter. Er klang ebenso wütend, wie Tikos Vater es zuvor gewesen war. Kunststück. Wenn Tiko das richtig verstand, hatte sein Vater schließlich auch gerade versucht, den Nachwuchs des Drachen totzutreten.
Gegen dieses Monster hatten alle Männer seines Vaters zusammen keine Chance. So fand Tiko es auch nicht erstaunlich, dass sein Vater bereitwillig auf alle Bedingungen des Drachen einging. Sicherheit und Unversehrtheit für Selea, Sicherheit und Unversehrtheit für das ungeborene Junge in seiner Burg.
Sicherheit mit Hintergedanken, und entsetzlicherweise schien der Drachen Gedanken lesen zu können. Er sprang den Baron an, und im nächsten Moment schrie sein Vater ganz fürchterlich, Blut spritzte und Tiko sah die abgebissene Hand seines Vaters zu Boden fallen.
Mirko war der einzige, der sich überhaupt traute, seinem Herrn zur Hilfe zu kommen und ihm den Armstumpf abzubinden. Danach musste Baron Kigato noch einmal schwören, dieses Mal wesentlich umfassender.
Der Drache wurde wieder zu einem Falken.
Und der Falke bliebt auf der Burg für die ganze Dauer von Seleas Schwangerschaft.
*
Im siebten Monat ihrer Schwangerschaft ritt Selea mit dem Falken aus. Als sie zurückkam, war der Falke nicht mehr bei ihr. Ihr Pferd auch nicht.
Und sie war nicht mehr schwanger.
Ihr Vater ließ sie gar nicht erst in die Burg hinein. Er hielt sein Versprechen, ihr nichts anzutun, aber er verbannte sie, weit weg, in ein kleines, ärmliches Köhlerdorf am Rand des Hochwaldes.
Tiko sah sie nicht wieder.
Es war, als ob mit Selea auch das Glück aus der Burg vertrieben worden war. Tiko vermisste ihr Lachen. Seine Schwestern drängten sich scheu in die Schatten, sobald ihr Vater irgendwo auftauchte und ihre Stimmen sanken zu einem Flüstern, um nur nicht seine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Baron machte nicht einen einzigen Versuch, noch weitere von ihnen zu verheiraten. Es war, als ob sie nicht mehr existierten, Schatten unter Schatten.
Sein Vater trank. Trank, wenn er Schmerzen hatte – und sein Armstumpf schien ihn fast jeden Tag zu schmerzen. Er trank auch, wenn er keine Schmerzen hatte, um seine Schande zu vergessen. Tiko nahm er bis tief in den Winter nur ein einziges Mal wirklich zur Kenntnis. Das war, als der Frost so klirrend kalt war, dass die Wände der Burg innen vor Eiskristallen glitzerten, und Männer wie Frauen selbst in den Räumen noch dicke Pelze trugen. Ein Winter, wie er seit Menschengedenken nicht mehr hier, so tief im Süden der tolorischen Grenzberge, gesehen worden war. Ein Frostgeisterwinter, wie einige der ganz Alten schaudernd raunten. Der Vater war abgemagert seit dem Zwischenfall mit dem Drachen. Er fror schnell, weder das lodernde Kaminfeuer noch die dicken Fuchsfelldecken vermochten ihn zu wärmen. Tiko hörte ihn stöhnen und brachte ihm einen Becher heißen Würzwein. Sein Vater nahm den Becher, ohne ihn anzusehen, leerte ihn in wenigen Zügen. Dann sah er auf.
„Du!“ Er beugte sich vor. „Nichtsnutziger Nachkömmling. Dich hätte es niemals geben sollen. Dann wäre meine Gattin vielleicht noch am Leben und dieses ganze Desaster mit deiner Schwester niemals geschehen.“
Einen Moment schlossen sich seine Augen, als ob ihn die Müdigkeit übermannte. Dann flogen sie wieder auf; und schneller noch als seine Augenlider bewegte sich seine Faust, fuhr vor und traf Tikos linke Schulter. Sein Schlüsselbein brach mit einem hörbaren Knirschen. Tiko floh, so schnell er sich wieder aufrappeln konnte. Erst draußen wich der Schock so weit, dass er den Schmerz spürte und wimmernd zusammensank. Er merkte nicht einmal, wer ihn aufhob und zur Heilerin trug.
Der Knochen heilte ohne böse Folgen. Aber danach drückte auch Tiko sich in die Schatten, wenn sein Vater in der Nähe war.
Alle waren mehr als erleichtert, als es endlich taute und sie nicht mehr von Schneewehen eingeschlossen waren. Die Sache hatte nur einen Haken. Nicht nur die Mehme-Leute konnten jetzt ihre Burg verlassen, das konnten auch andere.
Tikos ältere Brüder bemannten die Grenzwachen doppelt. Da die Rarkat auf der einen Seite keine Mehme-Frau mehr in Aussicht hatten, auf der anderen aber auch der Schutz durch den Drachen fehlte, mochten sie auf die Idee kommen, wie in früheren Jahren Überfälle auf die Dörfer und Herden der Mehme zu machen.
Jeder Pass und jede Straße wurde gesichert.
Der Feind jedoch kam auf einem ganz anderen Weg.
*
Am ersten Vollmond nach dem letzten Schnee feierten sie traditionell das Frühlingsfest. Egal, wie miserabel seine eigene Stimmung war, dieses Fest musste Baron Kigato einfach feiern. Nicht einmal in seinem alkoholumnebelten Zustand war er so dumm, seine Gefolgsleute durch eine Absage zu verärgern.
Musa backte und briet und braute, und mit ihr werkelten ein Dutzend Frauen in der großen Küche. Tikos Brüder gingen wilde Antilopen jagen, und die Bauern brachten ihre traditionellen Frühlingsabgaben, Lämmer und Eier, um zur Festtafel beizutragen.
Wichtiger aber waren die Händler und Musikanten. Ein gutes Dutzend von ihnen kam, wie jedes Jahr, in die Burg, baute große, bunte Stände auf, voller verlockendem Tand, ihre Frauen und jungen Männer tanzten und zeigten akrobatische Kunststücke, Trommeln und Flöten erklangen den ganzen Tag und die ganze Nacht. Tiko wusste, dass er sich dieses Jahr nichts kaufen konnte, Vater hatte nicht, wie früher, ein paar Kupferstücke für seine jüngeren Kinder herausgerückt, aber die verheißungsvollen Gerüche, der Trubel im Burghof und die ungewohnte, lustige Menschenmenge besaßen dennoch eine magische Anziehungskraft. Er stürzte sich voller Begeisterung in das Gewühl.
Am interessantesten waren natürlich die Akrobaten und Jongleure. Einer der Musiker legte am Abend seine Trommel weg, griff zu einigen Fackeln und begann, die brennenden Scheite kunstvoll durch die Luft zu wirbeln. Tikos Augen klebten förmlich an den Funkenwirbeln. So etwas Schönes hatte er noch nie gesehen. Es war, als ob die Flammen Muster in den Himmel schrieben.
Ein zweiter kam dazu, und die beiden Männer warfen sich gegenseitig die Fackeln zu, ein halbes Dutzend waren es jetzt. Ihre schweißglänzenden Muskeln spielten im Feuerschein, während sie sich drehten und sich über den Platz bewegten, in einem flammenden Tanz.
Frenetischer Applaus dankte ihnen und Tikos ältester Bruder gab ihnen gut gelaunt einige Kupferstücke für diese Darbietung. Dann klang die Trommel wieder, und die Zuschauer begannen ebenfalls zu tanzen.
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