Insgesamt waren Wiederholungen nicht ganz vermeidbar, um im Kontext zu bleiben, gleichzeitig aber den roten Faden nicht zu verlieren: Was ist der Stand? Wie kommt es dazu? Was macht es so schwierig und verstellt den Blick? Welche Perspektiven schließlich ergeben sich daraus?
Meine Gesamtintention ist daher lösungsorientiert, untermauert mit zahlreichen Fallbeispielen und teilweise drastischen Schilderungen zweifelhafter Praktiken
Abb. 1.1: Der verstellte Blick auf die Äußerungsformen von Menschen mit Intelligenzminderung
und defizitärer Konzepte. Entsprechend der Forderungen der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen ist das Buch ein Plädoyer für eine integrative Bereitstellung aller Wissensbestände der Psychiatrie, Psychologie und Heilpädagogik zur Minderung seelischen Leidens bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung.
1.3.3 Gliederung und zusammenfassender Überblick
Das Buch gliedert sich grob in drei Teile:
Im 1. Teil werden die wichtigsten Ergebnisse epidemiologischer Forschung zusammenfassend vorgestellt, die weltweit übereinstimmend eine Prävalenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung von 30–50 % festgestellt haben. Das ist zwei bis drei Mal so häufig wie bei nichtbeeinträchtigten Kindern. Kinder und Jugendliche mit intellektueller Beeinträchtigung sind ohne Zweifel eine »Hochrisikogruppe« für psychiatrische Morbidität. Die Entstehungsbedingungen dieser Häufigkeiten sind weitgehend bekannt und empirisch gut belegt. Aus der Perspektive der Entwicklungspsycho(patho)logie haben die »risikoerhöhenden« gegenüber den »risikomildernden« Bedingungen und Faktoren bei Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung ein deutlich höheres Gewicht. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Sozialpädiatrie haben sich dieser Problematik nicht gestellt. Das diesbezügliche Versorgungsangebot ist durchgehend defizitär. Auch die Geistigbehindertenhilfe hat kaum Angebote für die heilpädagogisch-therapeutische Langzeitbetreuung und -behandlung dieser Kinder und Jugendlichen geschaffen (analog dem § 35a-Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe). Einen erheblichen Teil der ambulanten Versorgung tragen die Förderschulen für geistige Entwicklung (FSGE), die über ihren Bildungsauftrag hinaus durchaus tagesstrukturierende Versorgungsaufgaben übernommen haben und in diesem Rahmen (teilweise erstaunliche) heilpädagogisch-therapeutische Leistungen erbringen.
Im 2. Teil werden die aus meiner Sicht wesentliche Bedingungen, Konzepte und Sichtweisen diskutiert, die in der Praxis wie auch im fachlichen Diskurs den Blick auf die Wirklichkeit der Lebenswelt dieser Kinder und Jugendlichen verstellen.
Auf der Basis systemtheoretischer Prämissen werden Intelligenzminderung als spezielle (körperliche) Eigenschaft eines Menschen, geistige Behinderung als sozial bedingte Daseinsform von Menschen mit Intelligenzminderung und Verhaltensauffälligkeiten sowie psychische Störungen als eine allgemeinmögliche menschliche Reaktionsweise, also unabhängig vom Intelligenzniveau, bestimmt. Die mangelhaften Unterscheidungen werden als wesentliche praktische und theoretische Hindernisse für ein offeneres Verständnis der Problemfelder angesehen. Das »bio-psycho-sozialen Modell der ICF« erlaubt eine gute Differenzierung und beschreibt den Prozesscharakter der Genese von »Behinderung«, in dem sich individuelle Anteile, insbesondere die individuelle Funktionsbeeinträchtigung wie auch gesellschaftliche Zuschreibungen verschränken. Geistige Behinderung ist der soziale Zustand eines Menschen mit einer Intelligenzminderung. Die Berücksichtigung des Prozesscharakters hat u. a. zwei wesentliche Aspekte: Der eine bezieht sich auf mögliche Umgangsstrategien mit dem Ziel, das aus der Funktionsbeeinträchtigung sich möglichst wenig »Behinderung« entwickelt, daher sehr früh die besondere »individuelle Normalität« erkannt und berücksichtigt werden muss. Der andere bezieht sich auf die Diskussion der »sozialen Konstruktion« von Behinderung. Geistige Behinderung kann nicht ausschließlich als Ergebnis gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse, sozialer Deutungsmuster oder ausgrenzender struktureller gesellschaftlicher Bedingungen (»Barrieren«; »soziale Isolation«) verstanden werden, sondern ist immer auch notwendige Folge individueller Funktionsbeeinträchtigungen in komplexen Gesellschaften.
Im Folgenden wird festgestellt, dass es grundlegende Unterschiede zwischen Intelligenzminderung und psychischer Störung gibt und die gemeinsame Klassifikation in der ICD oder im DSM nicht mehr zeitgemäß ist. Zudem wird begründet, dass keine linear-kausale Beziehung zwischen Intelligenzminderung und psychischer Störung besteht, diese also als voneinander unabhängige Sachverhalte betrachtet werden müssen. Dies gilt auch für Kinder mit genetisch begründeten Auffälligkeiten (sog. Verhaltensphänotypen).
Die Haltung des »overshadowing«, die aus meiner Sicht heute noch den Mainstream der Sichtweisen in den Praxisfeldern Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Sonder- und Heilpädagogik und Behindertenhilfe bestimmt, wird als eines der Hauptprobleme diskutiert. »Overshadowing« meint eine Wahrnehmungsverzerrung, die alle Äußerungsformen intellektuell beeinträchtigter Menschen auf eben diese intellektuelle Beeinträchtigung zurückführt und dadurch die (allzu menschlichen) Leidensformen nicht sehen kann. »Overshadowing« hat nicht nur für den pädagogischen und therapeutischen Umgang mit intellektuell beeinträchtigten Menschen katastrophale Folgen, weil damit jegliche »Passung« in der Begegnung miteinander verhindert wird. Es bedeutet letztlich die Verleugnung basaler menschlicher Eigenschaften. Damit werden allen Praktiken möglich, die wir normalerweise nichtbeeinträchtigten Menschen niemals zumuten würden (z. B. exzessiver Psychopharmakaeinsatz, aversive und restriktive Pädagogik, schlechte Unterbringungsbedingungen).
Eine weitere erhebliche Problematik ist die mangelhafte Entwicklungsorientierung, die naturgemäß spätestens ab dem Jugendlichenalter ebenfalls zu einer ungenügenden Passung zwischen der beeinträchtigten Person und ihrer Umwelt führt: Über- und Unterforderungen, Beeinträchtigungen der Interaktion und Kommunikation, verzerrte Wahrnehmungen der Äußerungsformen, unangemessene Unterstützungsleistungen sowie erhebliche individuelle Irritationen und Unsicherheiten (Identität, Selbstwert). Ich will es als Chance formulieren, weil mein Eindruck ist, dass Entwicklungsorientierung vielerorts gedacht und »irgendwie« praktiziert wird: Wenn es gelingt zu akzeptieren, dass Intelligenzminderung per definitionem »Entwicklungsrückstand« im kognitiven, damit auch im emotionalen und sozialen Bereich bedeutet, dann können viele Äußerungsformen besser verstanden und Umgangsstrategien angepasst werden, die dem Entwicklungsstand angemessenen sind und nicht über- oder unterfordern. Die Entwicklungsbedingungen vieler dieser Kinder führen auch dazu, dass sich erhebliche Diskrepanzen zwischen den Entwicklungsständen im kognitiven, emotionalen und sozialen Bereich auftun, die den Kindern selbst das Leben erschweren, aber vor allem auch den Umgang mit ihnen so schwierig machen. Hilfreich könnte auch sein, wenn man nicht mehr die Altersnorm in der Beurteilung zugrunde legt, sondern das persönliche, in aller Regel verlangsamte Entwicklungstempo zum Maßstab nimmt und jeden Entwicklungsschritt als Meilenstein auf einer Kurve der »individuellen Normalität« verbucht.
Der Begriff »herausforderndes Verhalten «, der ein breites Spektrum von aggressiven, expansiven und (selbst-)destruktiven Verhaltensweisen bezeichnet, wird abschließend unter mehreren Aspekten ausführlich diskutiert, weil er in der Versorgungspraxis nach meinen Erfahrungen hinderlich ist und eher »zuschüttend« als »öffnend« fungiert, obwohl genau letzteres im Diskurs behauptet wird. Aus meiner Sicht ist der Begriff sozusagen der »Klassiker« unter den Begrifflichkeiten, die unseren Blick auf die Wirklichkeit von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung und deren auffällige Lebensäußerungen verstellen. Der Begriff führt zu einer blinden Beliebigkeit gegenüber der Lebenswirklichkeit der Menschen: Nicht nur ihre Lebenslage, sondern vor allem ihr subjektives Erleben wird in unverantwortlicher Weise bagatellisiert. Die wirklichen Herausforderungen der »herausfordernden Verhaltensweisen« werden abschließend skizziert.
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