Polarisierung kann vorübergehend reizvoll sein, sie verliert dann ihren Charme, wenn unsere Klienten zwischen die Räder unserer Standesinteressen geraten. Gegenseitige Stigmatisierung nutzt uns wenig. Menschen mit Behinderungen mit ihren spezifischen Entwicklungswegen profitieren bei der Bewältigung seelischer Krisen von Kompetenzen verschiedenster Fachrichtungen, die idealerweise im engen persönlichen Austausch stehen. Einzelkämpfertum führt nur zu unangemessener Fragmentierung. Es geht darum, in Orientierung an den Anliegen der Betroffenen mit diesen nach Lösungsstrategien zu suchen, die nachhaltige Veränderungen im Alltag bewirken. Inklusion würde hier zunächst einmal bedeuten, dass wir uns selbst nicht exkludieren, sondern Zusammenarbeit suchen.
Das in therapeutischen Kreisen beliebte Zauberwort der Lösungsorientierung verbunden mit einer Zentrierung auf Ressourcen hat zu allerlei Trivialisierungen und Missverständnissen geführt. Es hat der Illusion Vorschub geleistet, dass Not und Einschränkungen sich allein dadurch auflösen, dass man sie umbenennt. Bei Menschen mit Behinderungen würde das bedeuten, dass man sie mit ihren Einschränkungen, die sie spüren und meist artikulieren können, allein lässt. Die Exklusion der Einschränkung führt nicht zu deren Behebung, im Gegenteil: Das vermeintlich »Nicht-Aussprechbare« meldet sich umso vehementer zurück. Es darf nicht als »offizieller« Teil des Selbst besprochen und auch nicht im Kontext erwähnt werden. Gerade dieser gut gemeinte Leugnungsmechanismus verhindert ein Selbstbild, in dem alle Facetten – auch die schwierigen – mit Stolz und Würde gelebt und auch kommuniziert werden dürfen. Nicht- oder nur mit Scham Aussprechbares wird zum Nährboden seelischer Not.
Ich bin unsicher, ob Psychiatern ein allgemeines Urteil über den Inklusionsprozess zusteht. In den Kliniken scheinen sich zur Zeit eher jene Therapiekontexte zu bewähren, die spezifische Kompetenzen ihrer Mitarbeitenden vorweisen und Gruppenstrukturen ermöglichen, in denen Menschen mit Behinderungen nicht am Rand stehen. Diese Angebote können in größeren Klinikverbünden realisiert werden, die neben spezialisierten Stationen über gemeinsame Angebote verfügen.
Eine generelle Beurteilung inklusiver Bemühungen ist verfrüht. Es gibt jedoch Hinweise, dass Kinder und Jugendliche im gemeinsamen Unterricht auch Schaden nehmen können. Es bedarf also in jedem Fall qualifizierter Navigationshilfen, die abgestimmt auf die individuellen Bedürfnisse Kinder und Familien während der Schullaufbahn beraten.
Seit vielen Jahrzehnten wird auf Defizite in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderungen hingewiesen. Fragmentierte Betrachtungen der Phänomenologie seelischer Not führen nicht selten in Sackgassen. In Orientierung an den Anforderungen Betroffener bedarf es ganzheitlicher Konzepte, die dem gerecht werden, was Behinderung im Lebensalltag individuell und kontextuell bedeutet, pädagogische und psychologische Qualität sicher stellt und gleichzeitig den Rückgriff auf das differenzierte Wissen einer multidisziplinären Psychiatrie ermöglicht, die bereit ist, Kompetenzen ihrer Nachbardisziplinen anzuerkennen und zu integrieren.
Eine der Nagelproben für ge- oder misslingende Kooperationen wird der Umgang mit Verhaltensweisen sein, die eine Versorgungeinheit so herausfordern, dass sie an die Grenzen des Machbaren gerät. Unverstellte achtsame und gemeinsame Blicke werden Chancen eröffnen, Menschen mit Behinderungen und deren Verhalten besser zu verstehen.
Es geht um geteilte berufsgruppenübergreifende Verantwortlichkeit. Und es ist Zeit, dass wir deutlich machen, was uns gelingt, was die Bedingungen des Gelingens sind und wie faszinierend das ist, was uns verbindet.
1 Hinterm Horizont geht’s weiter … Kollegiale Anmerkungen von einer »Insel des Glücks« 1 1 »Insel des Glücks« übertitelte der Autor einen Vortrag anlässlich der Verabschiedung von Michael Buscher als Chefarzt an der LVR-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Viersen. Mit diesem Bild sollte sowohl die hervorragende Leistung der Abteilung für intelligenzgeminderte Kinder und Jugendliche gewürdigt, als auch grundsätzlich die besonderen diagnostischen und therapeutischen Ressourcen einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie betont werden, denen gegenüber sich ambulante Dienste – so das Bild – in einem stürmischen Meer voller unsicherer Strömungen befinden. Michael Buscher Klaus Hennicke bleibt Mahner und appelliert an die professionelle Gemeinde, nun doch endlich Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderungen die Unterstützung zu gewähren, die ihren Altersgenossen ganz selbstverständlich zuteilwird. Grundlage ist eine ganzheitliche und gleichwohl differenzierte Diagnostik im Miteinander – und damit eben nicht von oben herab. Es geht um die Suche nach Potentialen ebenso wie nach Bereichen, für die es spezifischer Unterstützung bedarf, und zwar sowohl individuell als auch sozialfeldbezogen. Und dann geht es darum, alle an einen Tisch zu bringen, die aufgrund ihrer Verbundenheit, ihrer Verantwortlichkeit und ihrer Expertise einen Beitrag für gute Lösungen leisten wollen. Kaum jemand hat sich wie Klaus Hennicke in den verschiedensten professionellen Feldern bewegt: in der Psychiatrie, in einer großen Einrichtung der Behindertenhilfe, im kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst, in der akademischen Ausbildung von Heil- und Sonderpädagogen, als Vortragender auf Fachkongressen, insbesondere auch denen der Selbsthilfe, immer wieder in engem Kontakt mit Lehrern und anderen Fachpädagogen. Bezugspunkt bleibt die enge Zusammenarbeit mit den Familien auf der Basis von Wertschätzung und jener Form von Respekt, die erlaubt, auch Schwieriges anzusprechen, auch damit aufgehoben zu sein, und die Trauer um Nicht-Erreichtes und Nicht-Erreichbares nicht unter einem Blumengrab kaschiert. Um ergänzende, auch kritische Anmerkungen gebeten, seien auf dem Hintergrund einer viele Jahre währenden lernenden Verbundenheit einige Gedanken aus Sicht eines ehemaligen kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilungsarztes dargestellt.
»Insel des Glücks« übertitelte der Autor einen Vortrag anlässlich der Verabschiedung von Michael Buscher als Chefarzt an der LVR-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Viersen. Mit diesem Bild sollte sowohl die hervorragende Leistung der Abteilung für intelligenzgeminderte Kinder und Jugendliche gewürdigt, als auch grundsätzlich die besonderen diagnostischen und therapeutischen Ressourcen einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie betont werden, denen gegenüber sich ambulante Dienste – so das Bild – in einem stürmischen Meer voller unsicherer Strömungen befinden.
1 Einleitung: Um was geht es?
1.1 »Das normale Leiden«
Die Geschichte des 15-jährigen Ralph 2 2 Die Namen sind selbstverständlich verändert. Hinweise, die eine Identifizierung ermöglichen könnten, sind soweit es geht vermieden worden. 3 Synonyme von »Verstellen« nach Duden ( https://www.duden.de/rechtschreibung/verstell en ; Zugriff 14.11.2019) 4 Wenn von Pädagogik die Rede ist, ist – sofern nicht anders formuliert – immer zusammengenommen Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Sozialpädagogik, Behindertenpädagogik, Rehabilitationspädagogik gemeint, um den Text lesbarer zu machen und um die definitorischen Probleme zu umgehen, die selbst für Pädagogen unsicher sind. 5 In diesem Buch nutze ich meistens die männliche Geschlechtsform zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung. Diese schließt, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers) ein.
unter dem Titel »Das normale Leiden« möchte ich an den Anfang dieses Buches stellen, weil sie eine vermutlich für jedermann nachvollziehbare seelische Not eines jungen Menschen erzählt. Es ist kein drastisches, spektakuläres Beispiel, aber es werden viele Aspekte angedeutet, wie in den familiären und professionellen Kontexten mit den doch ziemlich heftigen Äußerungsformen des Jungen umgegangen wird. Es zeigt auch, auf welche besondere Art und Weise Ralph seine Not zum Ausdruck bringt.
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