Ist es das »eigentlich Unerträgliche« an der geistigen Behinderung, was uns einerseits so sprachlos macht oder was uns andererseits nötigt, uferlos zu debattieren, was der »richtige Weg« in der Wahrnehmung davon betroffener Menschen ist? Wenn wir nur noch »den Behinderten« und nicht den Menschen sehen können oder wenn wir glauben, nur noch den Menschen ohne seine »sogenannte« Behinderung wahrnehmen zu dürfen?
Im naiven inklusiven Diskurs wird »Behinderung« schlichtweg als »Bereicherung« verstanden, ohne zu klären für wen eigentlich, und als Ausdruck von Vielfalt unter den Menschen, als Diversität, bagatellisiert. Die angesprochenen Konflikte werden negiert. Die Infantilität der Bilderwelt der Pädagogik 4 4 Wenn von Pädagogik die Rede ist, ist – sofern nicht anders formuliert – immer zusammengenommen Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Sozialpädagogik, Behindertenpädagogik, Rehabilitationspädagogik gemeint, um den Text lesbarer zu machen und um die definitorischen Probleme zu umgehen, die selbst für Pädagogen unsicher sind. 5 In diesem Buch nutze ich meistens die männliche Geschlechtsform zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung. Diese schließt, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers) ein.
(Kastl) suggeriert eine heile Welt des fröhlich lachenden »Behinderten« und sieht Diversität als lustiges Neben-/Miteinander.
Weit verbreitet ist die Grafik, mit der die Unterschiede zwischen Exklusion, Separation, Integration und Inklusion veranschaulicht werden sollen. Der naive Einschluss aller Menschen in eine unterschiedslose soziale Gemeinschaft kann vielleicht noch als Utopie einer sehr fernen Weltordnung gelten, mit der aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Realität der Gesellschaften hat dies nichts zu tun. Hier geschieht eine unzulässige Auflösung menschlicher Eigenschaften. Es scheint so, als ob »Behinderung« resp. deren faktische Funktionsbeeinträchtigung aus dem Blickfeld verschwinden solle. Wenn sie dann doch unvermeidbar da ist, dann soll sie als Teil der menschlichen Vielfalt keine Fürsorgeimpulse mehr auslösen.
Die Ideologie der Inklusion würde dies natürlich vehement bestreiten. Im Kern aber wird im Diskurs auf die politischen und ökonomischen Bedingungen wirklicher Inklusion weitgehend verzichtet, auch die realen Beeinträchtigungen behinderter Menschen werden kaum unverstellt beschrieben. Denn wenn man es täte, müssten die Bilder der realen Welt, der politischen, ökonomischen, finanziellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für wirkliche Inklusion gezeichnet werden wie auch die ganz konkreten unvermeidlichen Lebensprobleme der Menschen infolge ihrer Beeinträchtigungen. Im Großen und Ganzen verbleibt derzeit Inklusion im eher technokratischen Schaffen von gemeinsamen Bedingungen (z. B. »gemeinsamer Unterricht« als Kernforderung inklusiver Beschulung), ohne deren wirkliche individuelle, soziale und politische Dynamiken zu thematisieren.
Der Versuch, Antworten zu finden auf die Frage, was uns den Blick auf eine eigentlich normale Wirklichkeit verstellt, konzentriert sich deswegen auf die seelischen Probleme von Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung, weil sich in ihnen – nicht nur aus Sicht des Kinder- und Jugendpsychiaters 5 5 In diesem Buch nutze ich meistens die männliche Geschlechtsform zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung. Diese schließt, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers) ein.
– eine grundlegende menschliche Eigenschaft zeigt, nämlich mit sich selbst und seiner Welt in Konflikt geraten zu können und Anforderungen ausgesetzt zu sein, die ein Mensch so oder so bewältigen und an denen er auch scheitern kann. Leugnet man diese Eigenschaft, leugnet man ein Stück Menschsein.
Seelische Probleme sind ein häufiger und sehr dynamischer Teil der Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung. Ich werde dies mit vielen Fallbeispielen zeigen und hoffe, dass sie vermeintliche Gewissheiten verunsichern, Kontingenzen schaffen und uns auffordern, den Blick auf diese Kinder und Jugendlichen offener und breiter zu gestalten. Meine Ausgangspunkte sind:
»Menschen mit geistiger Behinderung dürfen nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Die Gesellschaft muss deshalb dafür sorgen, dass junge Menschen mit geistiger Behinderung ihre Talente und Ressourcen entfalten können – und dass sie bei schulischen, sozialen oder psychischen Problemen wirksam unterstützt werden.
Entwickeln Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung psychische Störungen, haben sie Anspruch auf angemessene Behandlung, unabhängig vom Grad ihrer Behinderung. Bestehende kinder- und jugendpsychiatrische Versorgungsstrukturen müssen daher grundsätzlich auch Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung offen stehen und falls nötig deren besonderen Bedürfnissen angepasst werden; das Therapiesetting muss die Besonderheiten von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung berücksichtigen. Reichen die bestehenden Angebote nicht für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung aus, müssen neue spezielle Versorgungsstrukturen geschaffen werden.« (Volksschulamt der Bildungsdirektion Kanton Zürich 2012, S. 5)
Dieses Zitat stammt aus einem Papier des Volksschulamtes der Bildungsdirektion Kanton Zürich aus dem Jahre 2012 unter dem Titel »Psychiatrische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung«. So klar und selbstverständlich sind der psychiatrisch-psychotherapeutische und heilpädagogische Versorgungsanspruch von Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung und zusätzlichen Lebensproblemen und die daraus folgenden Herausforderungen an die Gesellschaft selten formuliert worden. Gleichzeitig erschreckt, dass es heute immer noch notwendig ist, dies zu betonen. Ein halbes Jahrhundert nach der berühmten epidemiologischen Isle of Wigth-Studie (Rutter et al. 1976; 1977), in der bereits die hohe psychiatrische Morbidität intelligenzgeminderter Kinder festgestellt wurde, ist es immer noch notwendig darauf hinzuweisen, dass Kinder und Jugendliche mit intellektueller Beeinträchtigung seelische Probleme haben, die das Ausmaß einer psychiatrischen Erkrankung annehmen können, und dass das Risiko für diese Menschen weit höher ist, solche Probleme zu entwickeln als bei nicht kognitiv beeinträchtigten Kindern. Das Leiden und die konkreten Leidensformen dieser Kinder und Jugendlichen werden auch heute noch in den Praxisfeldern übersehen oder als etwas gänzlich anderes wahrgenommen. Mitarbeiter in der Behindertenhilfe und Lehrer in den Förderschulen geistige Entwicklung beklagen seit Jahren die Zunahme der Verhaltensauffälligkeiten und die Probleme, die das für die Betreuung und Beschulung mit sich bringt. Viele Tagungen, Initiativen und Fortbildungsveranstaltungen zu dieser Thematik verdeutlichen das, ebenso das Erscheinen relevanter Fachbücher in den letzten Jahren. Während so die praktischen und wissenschaftlichen Evidenzen (meistens) zur Kenntnis genommen werden, werden sie in ihren Konsequenzen in eigenartiger Weise verleugnet. Diesen Tendenzen auf die Spur zu kommen, ist eine Intention dieses Buches.
• Wie erklärt sich der Widerspruch, dass selbstverständlich die volle Verwirklichung der Menschenrechte auch für intellektuell beeinträchtigte Menschen gefordert wird, aber gleichzeitig deren seelisches Leiden (als eine grundlegende Möglichkeit menschlicher Existenz) und damit auch ihr Anrecht auf spezifische Unterstützung kaum wahrgenommen werden?
• Wie kommt es, dass viele Kinder – und Jugendpsychiater die »stille Überzeugung« (Simonoff 2005, S. 743; Übers. K. H.) hegen, die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung dieser Kinder und Jugendlichen lohne sich kaum und insofern könne auch Diagnostik vernachlässigt werden?
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