Als eine Jammerkultur nicht weiterhalf, entschlossen wir uns, unser Selbstwertgefühl zu steigern. So waren wir keineswegs der Meinung, dass beispielsweise Therapie in unserem Kontext nicht möglich sei. Im Gegenteil: Sie war lediglich viel komplexer und erforderte mehr Fachwissen. Es gab also gute Gründe, auf unsere Arbeit stolz zu sein.
Folgerichtig waren immer mehr Kolleginnen und Kollegen daran interessiert, bei uns zu arbeiten – trotz des damals kaum abbildbaren Mehraufwands. Dafür war es aber auch spannender.
Wenn wir also Kinder und Jugendliche zusammen mit ihren Familien auf dem Weg zu mehr Selbstwerterleben unterstützen wollen, sind wir – so scheint mir – gut beraten, wenn wir auf der Basis eigener Expertise, der Freude an der Gestaltung von Verantwortungsräumen und auch Stolz innerhalb und außerhalb unserer Einrichtung aufeinander zugehen. Dies ist fernab von Über- und Unterlegenheitsszenarien, die es, wie ich hörte, immer noch gibt, und die so wenig bewirken.
Es geht nur mit Mannschaftsspiel auf Augenhöhe
Blicke verstellen sich vor allem dann, wenn sie den Anspruch auf Ausschließlichkeit haben. Unsere Klinik hatte sich systemischen Konzepten verschrieben. Im Kern lag – was unsere Aufgabe anging – der Gewinn in der Überzeugung, dass wir deutlich erfolgreicher sind, wenn wir unsere Unterschiedlichkeit nutzen. Das bedeutete auch, einen rigiden medizinischen Führungsanspruch aufzugeben, der gerade im Umgang mit Menschen mit Intelligenzminderung häufig inhaltsleer war, und anstelle dessen voneinander zu lernen. So waren es auch in den frühen Jahren nicht die Neuroleptika, die das Stationsklima änderten, sondern die Impulse von Erzieherinnen, die zusammen mit mutigen Mitarbeitenden der Pflege gegen oft erheblichen Widerstand starre Reglementierungsregimes durch einen deutlich wertschätzenderen, auf Verstehen gerichteten Umgang ersetzten. Ein weiterer Gewinn lag in der prägenden Rolle, die die meist fallführenden Psychologen und Pädagogen in der Abteilung hatten. Sie leiteten therapeutisch viele Stationen. Außerdem verfügten wir über eine engagierte Krankenhausschule, in der Sonderpädagogen allein und zunehmend eben auch zusammen mit uns neue Wege gingen. All das führte zu einem vertieften Verständnis dessen, was uns und die Kinder und Jugendlichen in ihren Familien oder Einrichtungen bewegte.
Bis heute ist für mich überraschend, dass all das, was an malignen Abgrenzungskämpfen zwischen Berufsgruppen beschrieben wird, in der Klinik kaum spürbar war. Ohne unser Miteinander hätten wir nichts erreicht. Die gemeinsame Kultur muss immer wieder neu erstritten, konkret gestaltet und von den Leitungen präsent unterstützt werden. Im Verlauf eines Aufenthaltes treten übrigens professionelle Teilaspekte zu unterschiedlichen Zeiten sehr unterschiedlich zutage. Übergänge sind fließend. So mag bei einer floriden psychiatrischen Entwicklung zunächst eher »psychiatrisches« Denken im Vordergrund stehen. Mit zunehmender Stabilität geht es dann wieder um entwicklungsorientiert »Pädagogisches«.
Es wäre doch wunderbar, wenn in Entwicklungsfragen kompetente Pädagogen Verhalten als im Rahmen einer spezifischen Entwicklung als zwar krisenhaft, aber normal erklären könnten. Aufgrund ihrer Expertise erscheinen die »Symptome« nachvollziehbar, die vom Psychiater als Zeichen einer psychischen »Erkrankung« gewertet und schlimmstenfalls fehlgedeutet werden könnten. Umgekehrt kann der Psychiater einzuschätzen helfen, wann gezeigtes Verhalten Qualitäten annimmt, die allein durch pädagogische Maßnahmen schwer beeinflussbar sind. In einem achtsamen Miteinander können Positionen nebeneinander stehen, greifen Hilfen ineinander.
Ich gebe zu, dass hier Kliniken sehr privilegiert sind. Fallbezogene Austauschforen sind jedoch auch anderswo möglich. Diesbezüglich bin ich tendenziell optimistischer als Klaus Hennicke und würde anregen, ein nächstes Buch über die Kultur des Gelingens zu schreiben, eine Kultur, die es auch jetzt schon gibt – nicht immer, aber immer öfter.
Viele Menschen sind überzeugt, dass in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen eine besondere Fürsorglichkeit, mehr Vorsicht, mehr Mitleid vonnöten sei.
Irgendwie ist an all dem etwas dran, aber es ist auch furchtbar und führt zu einer seltsamen Käseglockenkultur. Wir haben die Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen als durchaus kreative, teils schlitzohrige, manchmal – wie bei allen anderen Menschen auch – bösartige Menschen erlebt, Menschen mit eigenem Humor und vielen Potentialen. Wir hatten Spaß, mit ihnen zu arbeiten, besser noch Freude. Samthandschuhe waren überflüssig, auch unter uns. Es darf heftig gelacht werden, gern auch über sich selbst.
Psychosoziale Helfer begegnen sich nicht selten mit enorm hohen, moralisch unterlegten Ansprüchen. Nun ist selbstverständlich, dass man vom Anderen Leistungen erwarten kann, die seiner Professionalität entsprechen. Das schließt jedoch Scheitern nicht aus. Häufig begegnen wir uns in extrem belastenden Problemlagen. Immer wieder werden wir scheitern, und wir sollten lernen, uns hierüber mit Professionellen ebenso wie mit Betroffenen auszutauschen. Es wäre wunderbar, wenn man von gegenseitigen überhöhten Ansprüchen (»Scheiterfallen«) wegkäme.
Viele Familien sind erleichtert, wenn sie uns und andere Einrichtungen in den gleichen Schwierigkeiten sehen, die sie selbst haben. Nicht, dass ich mir unser gelegentliches Scheitern herbeigewünscht hätte, aber ich hatte nie das Gefühl, blamiert zu sein. Im Gegenteil: Auf irgendeine Weise ging es dann doch weiter – weil sich ein neuer Blick öffnete, weil die Familien uns intensiver unterstützten, weil es ein Muss ständiger Verbesserung nicht gibt.
Auch wenn ich mich der Gefahr fehlender Seriosität aussetze: Meine Erfahrung ist, dass Lernen am besten gelingt, wenn wir uns etwas erzählen, nicht wenn wir uns belehren. Es ist ein zähes Geschäft, andere davon zu überzeugen, was in ihrem Kontext richtig ist. Zweifelsfrei kann das in manchen Fällen gelingen, nicht selten scheitert es aber. Mir schien meist hilfreicher, mich darauf zu konzentrieren, was wir bei uns differenziert beobachtet hatten, was unter unseren Bedingungen gelang und was misslang. Und natürlich ist das etwas anderes als Plauderei, weil es hier um eine Erzählung auf dem Hintergrund professioneller oder multiprofessioneller Erfahrung geht. Mein Eindruck war, dass meine Gesprächspartner viel häufiger etwas für sie Nützliches »mitnehmen« konnten als bei meinen Versuchen, sie zu beeinflussen.
Gegenseitiges Lernen gelingt auch leichter, wenn man dem Gegenüber das Gefühl gibt, dass das Aufsuchen beispielsweise der Klinik kein Zeichen von Versagen, sondern eher ein verantwortungsvoller Akt ist und Veränderung bereits durch die Art der Zuweisung in Gang gesetzt wurde.
Aus Sorge vor Missverständnissen noch eine Ergänzung: Erzählungen in psychiatrischen Kliniken sollten sich immer, wenn das hilfreich ist (für Kooperationspartner ebenso wie für Familien), eines sehr umfassenden psychiatrischen Wissens bedienen können und dieses auch anderen zugänglich machen. Dieses Wissen gerät in Dialog mit anderen Kompetenzen und Kompetenzen anderer. Die Nützlichkeit für die Kinder und Jugendlichen entscheiden dann diese und ihre Bezugssysteme aufgrund eigener Expertise.
Übrigens hatte unsere spezialisierte Abteilung nie den Impuls, die Klinik zu »verlassen«. Die Vielfalt des klinischen Angebots einer großen Versorgungsklinik ermöglichte einerseits inklusives Handeln (gemeinsame Feste und Freizeitangebote), andererseits war immer wieder hilfreich, sich auch der Kompetenzen anderer Bereiche zu bedienen. Isolierten Klinikangeboten nur für Menschen mit Intelligenzminderung stünden wir eher skeptisch gegenüber.
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