• Warum behaupten pädagogische Fachleute unwidersprochen, dass Verhaltensauffälligkeiten nichts mit seelischem Leiden zu tun habe, und wer dies meint, »medizinisiert« oder »psychiatrisiert«?
• Und warum werden die Klagen der Mitarbeiter in der Behindertenhilfe und der Lehrer in den Förderschulen und der Eltern, die sich trauen, ihre Probleme öffentlich zu machen, nicht wahrgenommen?
Aus vielen Diskussionen mit Sonderpädagogen und kinder- und jugendpsychiatrischen Kollegen weiß ich, dass im Grunde die allermeisten der prekären Situation zustimmen. Gleichzeitig ist es meine Erfahrung, dass dieser vermeintliche Konsens nicht im Sinne verbesserter Versorgungsstrukturen umgesetzt wird. Gibt es tatsächlich heimliche Meinungen und stille Überzeugungen bei den Fachleuten, sind es politische, wirtschaftliche, ableistische oder gar rassistische Gründe, die den faktischen Ausschluss einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen aus der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung bewirken? Ernüchternd ist die Einschätzung von E. Simonoff (2005) im obigen Leitzitat, die manche Vermutungen zu bestätigen scheint.
Mit der Veröffentlichung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und ihrer Ratifizierung in Deutschland 2009 wurden die diesbezüglichen Widersprüche sicher deutlicher. Auch gibt es regional in kleinen Zirkeln »best practice«-Versorgungsstrukturen, aber es gibt nicht den Mainstream in den Fachgemeinden, die die eigenen Verlautbarungen wirklich umsetzen wollen. Erst 2019 wurde gesetzlich festgeschrieben, dass Psychotherapie bei Menschen mit geistiger Behinderung eine Kassenleistung ist.
Auch das neue Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG vom 23.12.2016) hat bisher und wohl auch zukünftig (es tritt erst am 2024 vollumfänglich in Kraft) die eklatante Ungleichbehandlung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen nicht aufgehoben. Vor dem Gesetz sind nicht Alle gleich: Es gibt behinderte Kinder- und Jugendliche, für die das Eingliederungshilferecht zuständig ist, und nicht behinderte Kinder und Jugendliche, für die die Kinder- und Jugendhilfe zuständig ist. Inhaltlich, leistungsrechtlich und strukturell bestehen gravierende Unterschiede und es steht zu befürchten, dass sich daran zukünftig nichts Grundlegendes ändern wird.
Im Oktober 2020 wurde der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG) den Verbänden zur Anhörung vorgelegt. Eine Einarbeitung in dieses Buch war zeitlich nicht mehr möglich. Mit dem Gesetz soll endlich die o. g. Ungleichbehandlung aufgehoben werden, allerdings frühestens Ende der 2020er Dekade. Neben der einhelligen Begrüßung der Initiative von den Behindertenverbänden (»Meilenstein«, so die Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V.) werden bereits erhebliche Kritiken und Problemanzeigen laut, die hier nicht nachgezeichnet werden können (vgl. Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V. 2020 und Fachverbände für Menschen mit Behinderung 2020).
1.3 Aufbau und Gliederung
1.3.1 Personenkreis
Ich beziehe mich auf Kinder und Jugendliche, die als »geistig behindert« bezeichnet werden und die in dem Ausmaß intellektuell beeinträchtigt sind, wie es die international anerkannten Definitionen der ICD-10 und des DSM-5 vorschreiben: »Intelligenzminderung« (intellectual disability) liegt ab einem IQ kleiner 70 vor. Ich bevorzuge den Begriff »Intellektuelle Beeinträchtigung«, meine aber das gleiche, wohl wissend, dass der IQ-Wert allein definitorisch wie sozialrechtlich nicht ausreicht, sondern vor allem das Ausmaß der Behinderung, also die Beeinträchtigung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, entscheidend ist.
Menschen mit Behinderungen sind keine homogene Gruppe. Es ist aus meiner Sicht wenig hilfreich, im Diskurs alle Funktionsbeeinträchtigungen (körperlich, geistig, seelisch, sensorisch) und die daraus folgenden Behinderungen gleichzusetzen. Es liegt auf der Hand, dass die unmittelbaren Folgen für den Betroffenen, die Auswirkungen auf Aktivität und Teilhabe je nach Art der Beeinträchtigung höchst unterschiedlich sind. Die Forderung nach »Barrierefreiheit« (oder auch nach schulischer Inklusion) für körperlich oder sensorisch beeinträchtigte Kinder ist vergleichsweise problemlos zu realisieren, weil sie sich in den intellektuell erfassbaren Lern-, Arbeits- und Lebensbedingungen genauso gut wie nichtbeeinträchtigte zurechtfinden. Sie sind im Prinzip für alle Tätigkeiten in den meisten Kontexten einsetzbar. Assistenz bezieht sich wesentlich auf die unmittelbaren Einschränkungen infolge der jeweiligen Funktionsbeeinträchtigungen.
Bei kognitiv-intellektuell beeinträchtigten Menschen und – eingeschränkt – bei seelisch behinderten findet sich eine gänzlich andere Situation. Sie benötigen Lern-, Arbeits- und Lebensbedingungen, die speziell ihren intellektuellen und neuropsychologischen resp. seelischen Voraussetzungen angepasst sein müssen. Assistenz muss wesentlich weitgehender je nach Ausmaß der Beeinträchtigungen gestaltet sein und betrifft mehr oder weniger alle Lebensbereiche. Schlussfolgerungen für die eine Gruppe können daher nicht bruchlos auf die andere Gruppe übertragen werden, sonst entstehen völlig unrealistische Forderungen. »Barrierefreiheit« z. B. für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung kann es in der modernen Gesellschaft nicht geben! Im konkreten Diskurs muss immer klar sein, um welche »Behinderten-Gruppe« es sich handelt.
Die »Behinderten-Hierarchie«, die sich aus den Feststellungen ableiten lässt, ist aus meiner Sicht eine harte Realität in der modernen Gesellschaft und im übrigen Teil sozialrechtlicher Normen (Eingliederungshilfe, Versorgungsmedizin). Ich denke auch, dass entsprechend real in den sozialen Haltungen und Zuschreibungen eine Wertigkeit der unterschiedlichen Behindertengruppen auszumachen ist, an der die intellektuell beeinträchtigten Menschen an unterster Stelle stehen.
Meine Erfahrungen mit diesen Kindern und Jugendlichen stammen aus meiner langjährigen beruflichen Tätigkeit als Kinder- und Jugendpsychiater in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, als Oberarzt in Kliniken, als Leiter eines kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes, als Berater und Supervisor von Förderschulen für geistige Entwicklung (FSGE) und in anderen Kontexten, viele von ihnen auch zusammen mit ihren Familien, ihren Heimbetreuern und Helfern im Rahmen der Eingliederungs- und Jugendhilfe und insbesondere mit ihren Lehrern in den FSGE. Als Lehrender an einer Fachhochschule und als Lehrbeauftragter für Neurologie und Psychiatrie im Studiengang Sonderpädagogik habe ich versucht, diese Erfahrungen den Studierenden der Heilpädagogik und der Sonderpädagogik nahezubringen und ihnen zu zeigen, zu welchen Äußerungsformen diese Kinder und Jugendlichen fähig sind, wie sie ihr Leiden ausdrücken und was man ihnen anbieten sollte, damit es ihnen besser geht, welche Hilfesysteme wofür zuständig sind und wie diese idealerweise gestaltet werden könnten.
Die folgende Grafik (
Abb. 1.2) verdeutlicht die Themenbereiche, die den Blick auf die Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung und ihre Lebensäußerungen verstellen. Die Grafik soll auch auf die Komplexität der hier zur Debatte stehenden Probleme hinweisen. Es versteht sich von selbst, dass keine der aufgezählten Bedingungen allein verantwortlich gemacht werden darf und dass sie eng miteinander verknüpft sind.
Aufgrund der Komplexität der Problemlagen ist es mir gelegentlich schwergefallen, mich dieser zu entziehen. Meine Ausführungen sind stellenweise sehr dicht und ausführlich – für den Leser sicher manchmal eine Herausforderung an das Durchhaltevermögen! Es schien mir dennoch wichtig, meine Aussagen auch zu begründen und möglichst viele Aspekte miteinzubeziehen.
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