Kliniken befinden sich im Wandel. Ihre Träger erwarten regionale Netzwerkstrukturen, am liebsten auch vielfältige Kooperationsvereinbarungen. Letztere sind gut für das Image, bleiben aber nach Verabschiedung häufig hohl. Jeder kennt die Vielfalt lähmender Arbeitskreise. Es bedarf also sehr konkreter individualisierter Kooperationsformen. Nahezu überall gibt es mittlerweile aufsuchende Angebote und jetzt auch zunehmend die stationsäquivalente Behandlung im Herkunftskontext. Die Angebote sind sehr personalintensiv und müssen entsprechend honoriert werden. Uns wunderte immer wieder, mit welchem Engagement beispielsweise Sonderpädagogen an den Therapieprozessen der Klinik teilnahmen und was Einrichtungen möglich machten. Umgekehrt besuchten Kollegen Schulen und Einrichtungen; gemeinsam wurden Fälle besprochen. Vieles befindet sich noch in den Anfängen und hängt vom individuellen Engagement der Beteiligten ab.
Notwendig erscheint ein universitäres Forschungsprojekt, das neue Versorgungsprojekte begleitet und deren Fortentwicklung aktiv unterstützt.
Die im Buch vorgenommene Akzentuierung des Umgangs mit herausforderndem Verhalten kann zur Falle werden. Verdienstvoll ist sicherlich, sich dem schwierigsten Themenfeld zu stellen. Andererseits besteht die Gefahr der Vernachlässigung vielfältigster, nicht unter diese Etikette fallender Erscheinungsformen psychischer Not, für deren Bewältigung die Psychiatrie Hilfen anbieten kann (wie andere Disziplinen auch, aber eben basierend auf dem Hintergrund jahrzehntelanger Erfahrungen mit psychischen »Verstörungen«) und bei denen Kooperationen leichter gelingen. Herausfordernde Verhaltensweisen sind häufig mit »very« expressed emotions in den beteiligten Helfersystemen verbunden. Nun soll Menschen mit Intelligenzminderungen ein vergleichbares Krisenangebot zur Verfügung stehen, wie allen anderen auch.
Deshalb ist beispielsweise unakzeptabel, wenn Kliniken teilstationäre oder stationäre Behandlung vorenthalten mit dem Hinweis, dass ambulante Therapie sinnvoller sei. Würde man der Argumentation folgen, könnten ohne Zweifel auch viele »normal« intelligente Kinder und Jugendliche ambulant behandelt werden.
Herausforderndes Verhalten führt nun keinesfalls automatisch zur Zuständigkeit der Psychiatrie, genauso wenig, wie herausforderndes Verhalten sog. normal intelligenter Kinder und Jugendlicher nicht automatisch in die Psychiatrie führt. Leider gibt es einen erheblichen Mangel an Angeboten für die Betroffenen. Schiebereien der Verantwortlichkeit und mangelnde Plätze steigern die Belastung der Familien enorm. Die primäre Zuständigkeit der Psychiatrie ergibt sich erst, wenn herausforderndes Verhalten zusammen mit dem auftritt, was als psychiatrische Störung festgelegt ist. Alles andere ist nicht primäre Aufgabe der Krankenhäuser.
Dennoch besteht die Notwendigkeit eines frühen Austauschs. Immer wieder lag der Hintergrund der Herausforderungen in Störungen, die wir beispielsweise als Psychose oder schwere Angst- und Zwangsstörung einschätzten. Das sind zweifellos Belastungen, die von psychiatrischer Expertise profitieren.
Psychiatrische Expertise ist m. E. kein Monopol von Ärzten. Kinder- und Jugendpsychiatrie verstehe ich als multiprofessionelle Disziplin. So haben wir immer wieder erlebt, dass zu Beginn ihrer Tätigkeit gerade gut ausgebildete Psychologen und Pädagogen ein deutlich differenzierteres Wissen mitbrachten als ihre ärztlichen Kollegen. Therapeutische Leitungen wurden von denjenigen wahrgenommen, die die meiste Erfahrung hatten – unabhängig von der Berufsgruppe. Bedauerlich, dass sich multidisziplinäre Vielfalt immer noch nicht in den Leitungsgremien von Kliniken abbildet.
Andererseits müssen Kliniken sich wehren, wenn die Herausforderungen andere als psychiatrische Gründe haben. Intelligenzminderung heißt nicht per se Schuldunfähigkeit und Aggressivität fällt nicht nur deshalb in die Zuständigkeit der Psychiatrie, weil alternative Hilfen oder konsequente Einschränkung fehlen.
Nun ist die Definitionsgewalt über das, was nun ein psychiatrisches Problem sei und was nicht, eine durchaus heikle Angelegenheit; und natürlich gibt es Fälle, in denen die Zuweiser zu Recht bemängeln, dass sich die Psychiatrie für »nicht zuständig« erklärt. Wir wissen mittlerweile, wie hoch die »psychiatrische« Morbidität in vielen Einrichtungen ist. Indikationsstellungen zu psychiatrischem Tun können zu Macht- und Abgrenzungsfragen werden, und der Vorwurf, dass sich Kliniken gerade bei expansiven Störungen der Verantwortung entziehen, ist in manchen Fällen durchaus berechtigt: vor allem dann, wenn mit größter Vehemenz Anforderungen an andere Helfersysteme gestellt werden, was diese zu leisten und zu tun hätten. Hier bedarf es übergeordneter Strukturen, Schiedsstellen. Es ist allerdings zu befürchten, dass uns Spannungen insbesondere bei Entscheidungen über eskalatives Verhalten erhalten bleiben.
Wollen wir dem Anrecht auf die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen mit psychischer Belastung und Intelligenzminderung gerecht werden, müssen wir unsere Elfenbeintürme verlassen und aufeinander zugehen, uns kennen lernen, uns besuchen. Durch die Sammlung von Kooperationsverträgen ist das selten erreichbar, am Ende geht es doch um die persönliche Begegnung.
Es ist zwar nicht so ganz einfach, Mitarbeitende für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderungen zu gewinnen, gelingt jedoch viel einfacher, als gemeinhin vermutet. Wir sollten uns aus der Mitleids- und Fürsorglichkeitsfalle befreien. Darum geht es nicht. Es geht vielmehr um eine hochqualifizierte gemeinsame Arbeit mit und für Menschen, die ihre Welt auf ihre Weise gestalten und die von unserem Angebot profitieren können, wenn sie und ihre Familien das wollen. In unserem Fall erwies sich ein systemischer Rahmen, der zu gegenseitigem Respekt verpflichtet, als Glücksfall. Bewährt hat sich die Balance zwischen besonders erfahrenen Mitarbeitenden und solchen, die neue Impulse einbringen.
Es würde hier zu weit führen, Fragen von Aus- und Weiterbildung darzulegen sowie von notwendigen Blicken über den Tellerrand hinweg. Wie wohl überall sind die Mitarbeitenden in unserem Bereich auf Leitungen angewiesen, die sie in ihrer Eigenverantwortlichkeit unterstützen. Es geht immer auch um einen Zugewinn von Autonomie, um verlässliche Unterstützung und die Aufforderung, das Miteinander mit Kollegen zu suchen, sich zu schützen, vor Gewalt, aber auch von Überforderung.
Zu unseren Grundhaltungen gehört die Neugier auf die Lebensentwürfe der Menschen, die zu uns kommen, auf deren Geschichten, Landkarten, Wünsche. Das ist nicht anders als in anderen Therapiebereichen. Bei aller Expertise kommen wir letztlich zu einer Haltung des Nicht-Wissens: Es gilt, den Widerspruch auszuhalten zwischen der Notwendigkeit, Familien alles Wissen zur Verfügung zu stellen, sofern sie den Bedarf danach äußert, und gleichzeitig unwissend zu sein, welcher Weg für die konkret Betroffenen der richtige ist.
Dass Mitarbeiter Eigenverantwortlichkeit und Austausch wünschten, selbstbewusst waren und sich dennoch der Selbstreflexion stellten, war immer eine große Freude.
Der verstellte Blick: Es ist Klaus Hennickes Verdienst, immer wieder den Blick zu richten auf kaum Gesehenes, auf blinde Flecken, auf Versäumnisse. Ich verstehe sein Plädoyer als Ausdruck der Überzeugung, dass die Menschen, die wir doch meist mit großer Freude begleiten und denen wir viel verdanken, es verdient haben, als Persönlichkeiten ernst genommen und in der Vielfalt ihrer Ausdrucksmöglichkeiten geachtet zu werden.
Als Soziologe muss er kritisch auf immer noch defizitäre Versorgungsstrukturen hinweisen, als Kinder- und Jugendpsychiater auf die Notwendigkeit, Einschätzungen nicht auf der Basis von Simplifizierungen und ausschließlich einer Denkrichtung entnommenen Vorannahmen vorzunehmen.
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