c. 2001–2013: Afghanistan und Terrorismusbekämpfung,»Kultur der militärischen Zurückhaltung«
Ab 2001 begann mit dem unter dem Schutz der Taliban in Afghanistan vorbereiteten Terroranschlag Al Quaidas gegen die USA, dem dabei ausgelösten erstmaligen Bündnisfall der NATO, dem nachfolgenden Krieg der USA gegen den Irak – dem sich Frankreich und Deutschland widersetzten – und der NATO-Mission in Afghanistan für die deutsche Bündnispolitik eine weitere prägende Epoche. In ihr wurde dem positiven Bild deutscher Bündnispolitik von Kritikern unter den Verbündeten entgegengehalten, Deutschland betreibe mit seiner »Kultur der militärischen Zurückhaltung« sicherheitspolitische »Trittbrettfahrerei« auf Kosten anderer, es engagiere sich nicht mehr wie in früheren Jahrzehnten mit eigenen politischen und militärischen Initiativen zur Stärkung der Handlungsfähigkeit der Allianz. Verglichen mit den deutschen Aufwendungen für seinen Wohlfahrtstaat seien die Verteidigungsaufwendungen zu niedrig und zu stark sinkend. Trotz deutschen Drängens auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und erklärter Bereitschaft zur Übernahme größerer Verantwortung für globale Sicherheitsangelegenheiten beschränke sich diese Bereitschaft aber auf bloße Soft-Power-Aspekte. Beim Afghanistan-Einsatz (ISAF) wurde im Bündnis allgemein anerkannt, dass sich im deutschen Verantwortungsbereich im Norden Afghanistans die Bundeswehr in ihren Kampfaufgaben bei der Aufstandsbewältigung ( Counter Insurgency ) , mit amerikanischer Unterstützung, gut bewährt habe. Zugleich wurde aus dem Kreis der im Süden und Osten Afghanistans härter belasteten Nationen kritisiert, bei militärisch robusten Einsätzen habe Deutschland lange Zeit seine Beiträge allzu sehr mit Vorbehalten ( Caveats ) eingeschränkt.
Vor allem das Verhalten Deutschlands zum Vorgehen der Allianz in Libyen 2011 (Enthaltung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Nichtteilnahme an den militärischen Operationen der NATO zur Durchsetzung einer Flugverbotszone) leistete den Zweifeln an Deutschlands politischer und militärischer Zuverlässigkeit weiteren Vorschub. Dies führte zu einer Diskussion in der sicherheitspolitischen Gemeinschaft ( Strategic Community ) Deutschlands. Während sich die Bundesregierung in ihrer »Kultur der militärischen Zurückhaltung« im Einklang mit dem mehrheitlichen Wunsch der Bevölkerung sah, Deutschland möge sich aus militärischen Auseinandersetzungen in Konfliktregionen heraushalten und sich auf die Mehrung seines Wohlstands durch Handel konzentrieren, mahnten die meisten führenden Persönlichkeiten und Experten der sicherheitspolitischen Gemeinschaft an, sich nicht von den engsten westlichen Verbündeten zu entfremden, keine Zweifel an der verlässlichen Bündnissolidarität Deutschlands aufkommen zu lassen und die Entwicklung europäischer Handlungsfähigkeit nicht zu gefährden.
Diese in den USA, aber ebenso bei den wichtigsten europäischen Verbündeten (Großbritannien, Frankreich) kritische Perzeption Deutschlands erschwerten die in dieser Epoche nachdrücklich angestrebte Entwicklung einer eigenständigeren sicherheitspolitischen, auch militärischen Handlungsfähigkeit Europas. Die offenkundig großen Unterschiede zwischen den strategischen Kulturen in Paris, London und Berlin konterkarierten notwendige, gerade auch von Deutschland unterstützte oder selbst eingebrachte Initiativen, durch Zusammenlegung und gemeinschaftliche Nutzung von teuren und hochwertigen militärischen Kräften und Fähigkeiten ( »Smart Defence« -Initiative der NATO; »Pooling and Sharing« -Initiative der EU/GSVP) Fortschritte in Richtung eines wirksameren und zugleich effizienteren europäischen Verteidigungsdispositivs zu machen. So blieb es einerseits bei der Tendenz, nationale Souveränität zu wahren und sich nicht in Abhängigkeit von politischen Entscheidungen von Partnern begeben zu wollen; interventionsbereite Verbündete wollten sich bei den operationsrelevanten Fähigkeiten nicht von deutscher Zurückhaltung abhängig machen. Andererseits erwiesen sich unter den europäischen Nationen nur noch Frankreich, Großbritannien und Deutschland wirtschaftlich und finanziell in der Lage, mit ihren jeweiligen Streitkräften ein breites Spektrum erforderlicher Fähigkeiten abzudecken; alle kleineren Nationen ließen ein Interesse erkennen, sich mit ihren begrenzten Kräften und Teilfähigkeiten an die größeren anzulehnen. Es zeigte sich im Kontext dieser praktischen Erfahrung im multinationalen Krisenmanagement im Rahmen von NATO-, EU- und VN-geführten Missionen, dass die von Deutschland favorisierte langfristige Vorstellung integrierter europäischer Streitkräfte, welche europäische Handlungsfähigkeit in der globalisierten Welt gewährleisten und zugleich den europäischen Pfeiler im transatlantischen Verbund stärken würden, auf absehbare Zeit nicht zu erwarten steht. Hierzu müssten zuerst die politischen Voraussetzungen geschaffen werden: sowohl eine Harmonisierung der sehr unterschiedlichen strategischen Denkrichtungen als auch die Bereitschaft zu Abstrichen bei den bisher nationalstaatlich souveränen Entscheidungsprozessen in der Außen- und Sicherheitspolitik.
d. 2014–2018: Konstruktive Mitgestaltung von verstärkter Abschreckung und Bündnisverteidigung
Im März 2014 löste die Aggression Russlands gegen die Ukraine einen bis heute anhaltenden Paradigmenwechsel in der NATO aus. Alle Verbündeten, und damit auch Deutschland, mussten sich in ihrer Bündnispolitik der von Grund auf veränderten neuen Lage einer potenziellen Bedrohung durch Russland durch Rückbesinnung auf Abschreckung und Bündnisverteidigung als wichtigste Kernfunktion anpassen, ebenso wie den eher diffusen neuen Herausforderungen an der südlichen Peripherie Europas.
Mit dem überraschenden Wiederaufleben einer territorialen Bedrohung in Europa durch Russland sah sich die NATO zurückversetzt in die überwunden geglaubte Konfrontation des Kalten Krieges, und hierbei richteten sich die Erwartungen aller davon besonders betroffenen Nationen zum einen auf die USA, zum anderen auf Deutschland. Denn jedem der alten und der seit den 1990er-Jahren beigetretenen neuen Verbündeten war bewusst, dass kein anderes Land so von der Allianz profitiert hat wie Deutschland: Von 1955 bis 1989 standen in Deutschland amerikanische, britische, kanadische, belgische, niederländische Großverbände schon im Frieden permanent bereit, im Rahmen der Vorneverteidigung jeden Angriff auf die territoriale Integrität der Bundesrepublik und West-Berlins bis zum Äußersten abzuwehren, und im Ergebnis dieser Bereitschaft aller westlichen Nationen zur kollektiven Bündnisverteidigung kam der Kalte Krieg 1990 zu einem für Deutschland äußerst glücklichen Ende. Jeder Verbündete hat dabei noch die Beiträge Deutschlands vor Augen, die es als konventionelles Rückgrat der kollektiven Bündnisverteidigung aufbrachte, als es um sein eigenes Überleben ging – 36 Kampfbrigaden des Feldheeres, eine moderne taktische Luftwaffe und eine die westliche Ostsee beherrschende Marine. In der Wahrnehmung der Verbündeten und auch der ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes galt die Bundeswehr lange als eine ins Positive gewandelte Nachfolgerin der gefürchteten, in ihrer militärischen Leistungsfähigkeit und Kampfkraft aber hoch respektierten Wehrmacht.
Bereits im Februar 2014 hatten maßgebliche Vertreter Deutschlands (der damalige Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier, Verteidigungsministerin von der Leyen) auf der Münchner Sicherheitskonferenz erklärt, dass Deutschland zu mehr (auch militärischer) internationaler Verantwortung bereit sei. Diese Erklärung wurde bereits wenige Wochen später mit dem aggressiven Vorgehen Russlands gegen die Ukraine im März 2014 und der nachfolgenden völkerrechtswidrigen Annexion der Krim zum Lackmustest. Es ist daher verständlich, wenn sämtliche (insbesondere die osteuropäischen) Verbündeten seither davon ausgehen, dass Deutschland bereit ist, in einer aus dem Kalten Krieg stammenden Rolle als Rückgrat kollektiver Bündnisverteidigung gemeinsam mit den USA und Großbritannien den gleichen Schutz vor militärischer Machtausübung Russlands bereitzustellen, den es selbst von 1955 bis 1995 über alle Maßen genossen hat. So wurde der »Münchner Konsens« der Deutschen von Februar 2014, mehr Verantwortung zu übernehmen, allgemein verstanden und auch bestätigt: » I agree, it’s now pay-back time for Germany « (so auch Bundesministerin von der Leyen bei ihrem ersten Ministertreffen 2014).
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