Auf dieser Basis des auch in den folgenden Jahren wiederholt bekräftigten »Münchner Konsenses« hat die von der »Großen Koalition« (CDU, CSU, SPD) getragene Bundesregierung den NATO-Paradigmenwechsel seit 2014 anerkannt konstruktiv mitgestaltet. Sie hat in führender Rolle an der Entwicklung der in Wales (2014), Warschau (2016) und Brüssel (2018) gebilligten Grundsatzkonzepte zur Wiederherstellung glaubwürdiger Abschreckung und gesicherter kollektiver Bündnisverteidigung ( NATO Readiness Action Plan, NATO Defence Investment Pledge, NATO Political Guidance for Defence Planning 2015, Strengthened Deterrence and Defence Posture ) maßgeblich mitgewirkt. Das Verteidigungsinvestitions-Versprechen (Zwei-Prozent-Ziel) hat Deutschland gemeinsam mit den USA als Kompromiss eingebracht und auf höchster Ebene mehrfach bekräftigt. Darüber hinaus hat Deutschland als eigene Initiative das NATO Framework Nations Concept durchgesetzt und sich damit als mehrfache Rahmennation und Anlehnungsmacht angeboten. Dies haben die meisten seiner Nachbarn dankbar aufgegriffen und sich damit im Vertrauen auf Deutschlands bündnispolitischer Zuverlässigkeit und Verantwortung auch von Deutschland abhängig gemacht. Diese Rahmennationrolle gilt in mehrfacher Hinsicht: für operative Krisenmanagement-Einsätze (z. B. in Afghanistan im Sektor Nord); für die Entwicklung gemeinsamer Fähigkeiten und Kräfte ( NATO Framework Nations Concept ), für den multinationalen Gefechtsverband der NATO Enhanced Forward Presence in Litauen, für den NRF-Speerspitzenverband der NATO Very High Readiness Joint Task Force für die NATO-Gesamtverteidigung im rückwärtigen Operationsraum ( NATO Joint Support and Enabling Command ). Parallel zu diesen maßgeblichen NATO-Grundsatzkonzepten entwickelte die Bundesregierung mit dem Weißbuch 2016, der Konzeption der Bundeswehr und dem Fähigkeitsprofil der Bundeswehr die entsprechenden nationalen Konzeptdokumente für die deutschen Bündnisbeiträge. So ist unbestreitbar festzustellen, dass Deutschland mit Blick auf die konzeptionellen Grundlagen für die NATO-Anpassung seiner herausragenden Position und Verantwortung als zweitwichtigster Verbündeter nach den USA gerecht geworden ist.
e. 2018–2021: Zögernde Umsetzung
Das galt anfänglich auch für die praktische Implementierung der seit dem Wales-Gipfel beschlossenen neuen Konzepte, zumindest für die kurz- und mittelfristigen Maßnahmen des NATO Readiness Action Plan und des Strengthened Deterrence and Defence Posture . Sie wurden von Deutschland bis Frühjahr 2017 vorbildlich umgesetzt: Es hat die Führung und Bereitstellung des NRF-Speerspitzenverbandes (VJTF) für die Jahre 2015, 2019, 2023, 2027 akzeptiert, die Verantwortung für die Vornepräsenz in Litauen ( Enhanced Forward Presence ) dauerhaft übernommen, zum Schutz des Luftraums in den baltischen Staaten ( Air Policing) regelmäßig beigetragen, seine rotierende Übungspräsenz zu Lande und in der Ostsee sowie auch im Südosten des Bündnisgebietes als Beitrag zur dortigen NATO Taylored Forward Presence erhöht und nicht zuletzt auch die nukleare Teilhabe aufrechterhalten. Zugleich trägt Deutschland weiterhin zu zahlreichen zivilen und zivil-militärischen Krisenmanagement-Missionen (Afghanistan, Irak, Mali) und zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus bei. Soweit hat sich Deutschland als Teil der Lösung für Europas Sicherheitsprobleme erwiesen.
Deutschlands Bündnispolitik gegenüber Russland: Teil der Lösung, aber auch des Problems
Aber der »Münchner Konsens« der Bundesregierung ist im Wahlkampf 2017 zerbrochen. Die aus der Bedrohung durch Russland entstandene Zwei-Prozent-Zielsetzung und die deutschen Zusagen zur NATO Verteidigungsplanung (drei Divisionen mit zehn Kampfbrigaden bis 2031) werden von SPD, Grünen und Linkspartei nicht mehr mitgetragen oder offen abgelehnt, von CSU, CDU, FDP und AfD befürwortet. Die Bundesregierung ist seither bündnispolitisch in einer schwierigen Lage. Eine Fortsetzung der eingeleiteten Trendwenden der Bundeswehr (Haushalt, Materialausstattung, Personal) ist in der mittelfristigen Finanzplanung nicht abgebildet.
Dies kulminierte beim NATO-Gipfel 2018 in Brüssel mit Präsident Trump, der über die Frage der Lastenteilung und der Implementierung des vereinbarten und wiederholt bekräftigten Zwei-Prozent-Zieles so weit ging, mit einem Austritt der USA aus der NATO zu drohen. Mit seinem Beharren auf Einlösung des Verteidigungsinvestitions-Versprechens von Wales besonders auch durch Deutschland stand Trump keineswegs allein. Aus Sicht der Mehrheit der Verbündeten hatte Deutschland seit 2014 mit dem »Münchener Konsens« wiederholt seine gestiegene Bereitschaft zu größerer Verantwortung und gewichtsgemäßen Beiträgen erklärt. Das Versprechen von Wales mehrfach zu bekräftigen, dann aber um ein Viertel unter einer der zentralen Zielmarken bleiben zu wollen, wurde von der Mehrheit der NATO-Regierungen als enttäuschend minimalistisches Verhalten gegenüber den europäischen Verbündeten gesehen. Denn bei der Erfüllung oder Nichterfüllung des Zwei-Prozent-Ziels durch Deutschland bis 2024 ging es zugleich auch um die – damit fraglich gewordenen – zukünftigen Beiträge, insbesondere das von Deutschland bei der Verteilung der NATO Fähigkeitenziele auf die Nationen im Frühjahr 2017 akzeptierte, sehr ambitionierte Fähigkeitenpaket, mit dem es zugleich ein beispielhaftes Zeichen für andere Verbündete gesetzt hatte.
Bei alledem ist von Bedeutung, dass Deutschland den Anpassungsprozess der NATO seit 2014 nicht nur mitgetragen, sondern in führender Rolle und enger Abstimmung im Quad-Kreis mit den USA, Großbritannien und Frankreich maßgeblich mitgestaltet hatte und dabei stets für »Maß und Mitte« eingetreten war, zum Teil gegen massive Widerstände derer, die zunächst weiterreichende Vorstellungen von wiederherzustellender Verteidigungsfähigkeit – im Sinne einer neuen Vorneverteidigung an den Ostgrenzen der Allianz – hatten. Insbesondere hat Deutschland die Grundlinie »Erhöhte Responsiveness « (statt Verteidigung mit bereits im Frieden vorne präsenter Großverbände, wie im Kalten Krieg) und den »Harmel 2.0«-Ansatz von Abschreckung, Verteidigungsfähigkeit und auch Dialogangebot als Kompromisslösungen durchgesetzt. Seither hat es nun auch eine besonders große Verantwortung dafür, dass dieser Ansatz funktioniert, und eine moralische Pflicht, dafür die mehrfache Hauptrolle als Rahmennation auszufüllen, die es übernommen hat: für VJTF und NRF, für die NATO Vornepräsenz in Litauen, für die Entwicklung von Verstärkungs-Großverbänden und Hochwertfähigkeiten, für das NATO Joint Support and Enabling Command und als Host Nation für die Verbündeten bei Aufmarsch und Verlegung von Streitkräften im Transitland Deutschland.
So geriet trotz des seit 2014 positiven bündnispolitischen Leistungsbild Deutschlands – konzeptionell die Anpassung mitgestaltet, das Bündnis zusammengehalten und bei der Umsetzung der meisten Beschlüsse seit dem Wales-Gipfel 2014 vorbildlich geliefert, den Afghanistan-Einsatz als zuletzt zweitstärkster Truppensteller durchgehalten – das Vertrauen in Deutschlands Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit beim Brüssel-Gipfel 2018 ins Wanken.
Dies hat dazu geführt, dass Deutschlands bündnispolitische Verlässlichkeit gegenwärtig infrage steht. Beim transatlantischen Kernproblem »faire Lastenteilung« (wofür die Zwei-Prozent-Vereinbarung steht) ist Deutschland Anführer einer Minderheit und wird von der Mehrheit als wortbrüchig wahrgenommen; dies schadet seiner Gestaltungsmacht in der Allianz schwer. In der NATO wird die deutsche Zurückhaltung durch überproportional starke Streitkräftebeiträge der USA ausgeglichen. In der EU hingegen kann die Vision eines »Europas der Verteidigung« mit einer sich entwickelnden strategischen Autonomie ohne entsprechende militärische Beiträge Deutschlands nicht einmal ansatzweise entstehen. Damit ist Deutschland mit Blick auf die mangelnde Selbstbehauptungsfähigkeit Europas im neuen Zeitalter der geopolitischen Großmächterivalität zu einem Teil des Problems geworden; es muss nun dafür sorgen, Teil der Lösung zu werden.
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