Wenn in diesem Zusammenhang von »Recht« die Rede ist, dann ist das »moralische Recht«, das moralisch Rechtmäßige oder Richtige gemeint, nicht das von staatlichen Organen gesetzte, »positive« Recht. Letzteres hat für die heutige Sozialen Arbeit bekanntlich eine grundlegende, rahmengebende Funktion. Das Bürgerliche Gesetzbuch und das Sozialgesetzbuch enthalten entscheidende Rechtsvorschriften, die in der Praxis anzuwenden sind. Das macht den Umgang mit Widersprüchen zwischen moralischem und positivem Recht sehr schwierig. Das moralische gegen das positive Recht durchzusetzen ist nur unter extremen Bedingungen des Machtmissbrauchs oder gar einer diktatorischen Herrschaft ethisch legitim. Dennoch kann der Widerspruch auch im Rechtsstaat virulent werden.
Dazu ein Beispiel aus den Interviews. Die Sozialpädagogin Corinna Weißgerber leitet in einem Kinder- und Jugendheim eine sogenannte Diagnosegruppe. Dort sind Kinder aus Familien mit schwerwiegenden Problemen vorübergehend, normalerweise nicht mehr als ein halbes Jahr, untergebracht, damit über ihre Rückkehr in die Familie oder über einen anderen Verbleib entschieden werden kann. Der sechsjährige Martin ist wegen der Schwierigkeiten seines Falles schon seit fast drei Jahren in der Gruppe. Er kam dorthin mit schwersten Entwicklungsverzögerungen. Möglicherweise hat er von den Eltern oder einem Elternteil über lange Zeit hinweg und immer noch starke Beruhigungsmittel bekommen. Diesbezüglich beschuldigen die Eltern sich gegenseitig und zugleich sind sie in eine Scheidung verwickelt. Für den Medikamentenmissbrauch gibt es Indizien, aber beweisen ließ sich bislang nichts. Corinna Weißgerber:
»Je nachdem, wie man die Situation sieht, ist da nicht nur eine Zwickmühle. […] Letzten Endes spielen wir ja hier fast schon mit den Eltern auf dem Kopf des Kindes. Das moralische Problem liegt hier eigentlich nicht darin, dass man irgendwelche Entscheidungen treffen müsste, die für den einen oder anderen negativ wären oder die man lange abwägen müsste und mit denen man hinterher vielleicht doch nicht zufrieden wäre. Mein Problem liegt mehr darin, hier eigentlich gar keine Entscheidungsgewalt zu haben. So gerne ich einfach sagen würde: ›Komm, pack den Jungen in ’ne nette Pflegefamilie und lass ihn noch ’ne Therapie dabei machen‹ – ich kann nicht, ich darf nicht. Nur weil keiner keinem irgendwas nachweisen kann, steckt der Junge bei uns in der Gruppe […]. Er darf zur Mutter, dann wieder nicht, dann alleine zum Vater, dann nur Besuch in der Gruppe, dann eine Stunde draußen alleine mit dem Jungen, dann doch ein Wochenende, dann stellt sich hier wieder irgendeine Gefährdung raus, dann darf wieder keiner kommen, dann streiten sich die beiden wieder vor Gericht, dann – es nimmt einfach kein Ende. Und es ist nicht gut so, wie es läuft. Es macht keinen Sinn. Es macht das Kind mürbe und kaputt […]. Mein Gewissen wird also eingebunden in das Regel- und Gesetzeswerk unseres Heimes und des Jugendamtes und des gesamten Rechtsapparates. Und ich frage mich immer wieder […], ob ich das verantworten kann.«
Die sozialarbeiterische Fachkraft kann die rechtlichen Regeln der Unterbringung eines in seinem Wohl gefährdeten Kindes weder ändern noch umgehen, sondern allenfalls auf eine hinreichend gute und rasche Anwendung des Rechts hinwirken, was sich unter widrigen Bedingungen als höchst schwierig erweisen kann. Zurecht prangert Corinna Weißgerber in diesem Fall eine erneute Gefährdung des Kindeswohls allein aufgrund der langwierigen Prozedur von Anamnese und Diagnose an. Zweifelhaft erscheint, ob Heim, Jugendamt und Familiengericht dieses Problem genügend im Blick haben. Allerdings ist die rechtliche Anforderung für den ursächlichen Nachweis der Kindeswohlgefährdung und den auch prognostisch relevanten Sachverhalt sehr hoch, ist doch »ein Eingriff in das Elternrecht nur im Falle einer nachhaltigen, mit ziemlich sicherer Sicherheit voraussehbaren Kindeswohlgefährdung zulässig« (Heilmann 2020, 231).
Das positive Recht ist ein dem Anspruch nach widerspruchsfreies System, auch wenn sich die Wirklichkeit oft genug in dieses System nicht zweifelsfrei einordnen lässt. Demgegenüber sind moralische Normen und Werte in ihrer Anwendung sehr viel weniger eindeutig und systematisch. Auch spielt die Eigenverantwortung des handelnden Subjekts eine viel stärkere Rolle als beim positiven Recht. Den ethischen Ansprüchen nach muss es sich
1. der eigenen Motive,
2. der Ziele,
3. der dafür erforderlichen Mittel und
4. der Folgen des Handelns bewusst sein.
Und es hat diese, den jeweiligen Umständen entsprechend, eigenverantwortlich umzusetzen.
Die ethisch richtige Entscheidung ist zunächst abhängig von der eigenen Motivation, der Gesinnung der Fachkraft. Mit der fürsorglichen Tätigkeit ist oft, mehr oder weniger verborgen, Macht verbunden, die missbräuchlich, zum eigenen Vorteil, eingesetzt werden könnte. Stattdessen soll das Handeln von einer Gesinnung getragen werden, das Wohl der Mandatgeber – der Klientel, der Gesellschaft sowie der eigenen Fachlichkeit (vgl. Staub-Bernasconi 2007, 36 f.) – ausgewogen zu fördern.
Das Ziel des fachlichen Handelns ist vor allem dann auf seine ethische Legitimität hin zu befragen, wenn es mit alternativen berechtigten Zielvorstellungen kollidiert. Der Hierarchie von Nicht-Schaden und Nutzen liegt das allgemeinere Prinzip zugrunde, dass das Dringliche Vorrang vor dem weniger Dringlichen hat. Diese beiden Prinzipien sind hinsichtlich ihrer praktischen Anwendung weiter zu differenzieren. Was genau soll durch eine schadensmindernde Maßnahme vermieden oder gelindert werden, was durch eine Hilfemaßnahme gefördert werden? Zur Beantwortung können wir auf das sozialpsychologische Konzept der Bedürfnisse von Abraham Maslow (2014 [1954], 1971) zurückgreifen (die griffige Darstellung der »Bedürfnispyramide« kam allerdings erst bei der Rezeption der Theorie durch andere auf). Hier geht es um die anthropologische Struktur menschlicher Bedürfnisse, deren Nichterfüllung die Verletzbarkeit des menschlichen Lebens darstellen und zu deren Schutz moralische Werte und Normen dienen. Sie sind (im folgenden Schema von unten nach oben) nach Dringlichkeit ihrer Berücksichtigung gestaffelt (
Abb. 2).
Abb. 2: Bedürfnispyramide nach Maslow (die in Klammern aufgeführten, konkretisierenden Bezeichnungen sind beispielhaft, nicht als vollständig zu verstehen)
Ursprünglich hatte Maslow ein einfacheres Modell von nur fünf Bedürfnisklassen entworfen, erweiterte es dann aber durch die Einfügung geistiger Bedürfnisse. Er klassifizierte die vier basalen Bedürfnisklassen als »Mangelbedürfnisse«, die ursprünglich fünfte, nämlich Selbstverwirklichung, als »Wachstumsbedürfnisse«. Das Konzept ist in der Psychologie vielfach rezipiert und diskutiert worden. Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden, sollten die folgenden Merkmale des Konzepts festgehalten werden:
• Die Abgrenzung zwischen den Bedürfnistypen ist nicht strikt, vielmehr gibt es vielfache Übergänge und Vermischungen.
• Die basalen Mangelbedürfnisse motivieren, nach dem Modell der Homöostase, nur dann zum Handeln, wenn sie nicht erfüllt sind.
• Dagegen haben die ›höheren‹ Wachstumsbedürfnisse, insbesondere das der Selbstverwirklichung, keinen Ruhepunkt, vielmehr generiert gerade ihre Erfüllung die Motivation, weiterzugehen.
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