Julia Walton
Wörter an den Wänden
Aus dem Amerikanischen von Violeta Topalova
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Words on Bathroom Walls im Verlag Random House Children’s Books, New York.
© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
© Text: 2017 by Julia Walton
This translation published by arrangement with Random House Children’s Books, a division of Penguin Random House LLC.
Übersetzung: Violeta Topalova
Cover photograph copyright © 2020 by Jacob Yakob/Courtesy of LD
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN 978-3-03880-139-9
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Für Dougie, der meine Hand hält,
damit ich mich nicht verirre.
Anfangsdosis: 0,5 mg. Adam Petrazelli, 16 Jahre, nimmt an der klinischen Studie für ToZaPrex teil. Er beteiligt sich nur widerstrebend an den Therapiesitzungen. Kommunikation ausschließlich nonverbal. Nicht ungewöhnlich, wenn man seinen Widerstand gegen den therapeutischen Aspekt der Medikamentenstudie bedenkt.
15. August 2012
Mein erster Arzt hat gesagt, es sei ungewöhnlich, dass die Symptome sich schon bei einem so jungen Menschen manifestieren. Bei männlichen Patienten wird Schizophrenie für gewöhnlich erst im Alter von Anfang bis Mitte zwanzig diagnostiziert. Ich weiß noch, dass ich dachte: Na toll. Scheiße, ich bin was ganz Besonderes.
Wahrscheinlich dürfte ich in diesen Einträgen eigentlich nicht fluchen.
Scheiße.
Aber Sie haben mir zugesagt, dass die Einträge vertraulich behandelt und niemals gegen mich verwendet werden. Also kann ich meiner Meinung nach hier so reden, wie es mir passt. Und ich werde mir auch nicht den Kopf über grammatikalische Feinheiten zerbrechen. Ob man einen Satz mit einer Konjunktion beginnen darf und so. Wenn dies hier wirklich, wie Sie es ausgedrückt haben, »ein sicherer Ort, um mich frei auszudrücken« ist, dann werde ich alles, was mir durch den Kopf geht, genauso aufschreiben, wie es mir durch den Kopf geht.
Ihre Fragen werde ich beantworten, aber nicht während unserer Sitzungen. Ich mache das hier, denn auf Papier kann ich mir das, was ich geschrieben habe, noch einmal durchlesen, bevor ich es Ihnen in die Hand gebe. So kann ich selbst bestimmen, was Sie sehen, und es vermeiden, etwas zu sagen, das vielleicht ein Anlass wäre, mich aus der Medikamentenstudie auszuschließen.
Wenn ich mit jemandem rede, sage ich nicht immer exakt das, was ich wirklich meine. Und da es unmöglich ist, einmal ausgesprochene Worte wieder runterzuschlucken, rede ich lieber gar nicht, wenn möglich. Damit müssen Sie eben klarkommen.
Aber ich verstehe, dass Sie Fragen zu meiner Krankheit haben. Wenn Leute davon erfahren, haben sie ab dem Moment kein anderes Thema mehr. Sie wissen wahrscheinlich, dass meine Mom und mein Stiefvater Sie ausgewählt haben, weil Sie viel Erfahrung besitzen.
Und ich muss zugeben, dass Sie ziemlich cool geblieben sind.
Nach nur ungefähr zwei Minuten bleierner Stille haben Sie mir einen Block gegeben und mich angewiesen, meine Antworten nach unseren Sitzungen aufzuschreiben, wenn ich nicht mit Ihnen reden will. Und das will ich wirklich nicht. Natürlich werde ich alles dafür tun, dass es mir besser geht, daran liegt es nicht. Der Grund ist, dass ich nicht hier sein will. Genauer gesagt will ich nicht, dass das hier real ist. Ich würde die Therapie gern genauso behandeln wie all die anderen Dinge, die ich lieber ignorieren möchte. Als würde sie nicht existieren. Eines weiß ich nämlich jetzt schon: Diese Sitzungen werden rein gar nichts bringen.
Aber das Medikament vielleicht.
Sie haben mich gefragt, wann mir zum ersten Mal aufgefallen ist, dass irgendetwas nicht ganz normal war. Ab wann es sich verändert hat.
Am Anfang dachte ich, es liegt an meiner Brille. Nein, Brille ist doof. An meinen Gläsern. Das Wort gefällt mir viel besser.
Ich habe sie bekommen, als ich zwölf war, weil ich ständig die Augen zusammenkniff und meine Mom damit verrückt machte. Dr. Leung ist der einzige Arzt, den ich wirklich mag, weil er eine ziemlich einfache Lösung für ein großes Problem gefunden hat. Gläser. Problem gelöst. Ich konnte wieder sehen und meine Mom war glücklich.
Aber das war auch der Punkt, an dem mir klar wurde, dass ich Dinge sah, die für andere nicht sichtbar waren. Ich war stets der Einzige, der den Kopf herumriss oder die Augen zusammenkniff, um etwas besser erkennen zu können. Alle anderen schauten nicht etwa die Vögel an, die durch das offene Fenster hereingeflogen kamen, oder die seltsamen Leute, die auf einmal im Wohnzimmer standen. Sie schauten nur auf mich. Also hörte ich auf, meine Gläser zu tragen, und sagte meiner Mom, ich hätte sie verloren. Eine Weile funktionierte das und ich konnte so tun, als sei alles in Ordnung, aber irgendwann kaufte sie mir so viele Exemplare, dass ich keine Ausrede mehr hatte. Ich war geliefert.
Lange Zeit erzählte ich ihr nichts von den Dingen, die ich sah. Sie hatte gerade erst meinen Stiefvater geheiratet und die beiden waren sehr glücklich. Ich sagte es ihr erst, als mir keine andere Wahl mehr blieb. Meine Rektorin rief bei uns an, und nachdem Mom aufgelegt hatte, schaute sie mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal.
»Mrs. Brizeno sagt, du hättest im Chemielabor nach oben geschaut und dich dann schreiend zu Boden geworfen.« Ich weiß noch genau, wie ruhig sie war. Meine Mom hat eine Art Jedi-Tonfall drauf, mit dem sie dich einlullen kann, wenn sie Informationen will. »Was hast du denn dort gesehen?«
Ich antwortete nicht sofort. Zuerst nahm ich meine Gläser ab und versuchte, so zu tun, als sei sie nicht da. Als habe sie sich nach ihrer Frage einfach in Luft aufgelöst. Ich bin ziemlich gut darin, mir solche Sachen einzureden, aber diesmal war es schwierig. Sie stand einfach vor mir und wartete auf meine Antwort.
»Fledermäuse«, sagte ich und senkte den Blick. »Riesige schwarze Fledermäuse.«
Ich verschwieg ihr, dass sie doppelt so groß gewesen waren wie normale Fledermäuse. Ich sagte nichts von ihren Menschenaugen und nichts von den nadelspitzen Reißzähnen, die aus ihren Mäulern geragt hatten.
Als sie zu weinen begann, wünschte ich, die Fledermäuse wären echt gewesen. Ich wäre lieber von den ekligen kleinen Mistkerlen aufgefressen worden, als erleben zu müssen, wie meine Mom mich in diesem Moment ansah. Als sei ich verrückt.
Ich wollte wirklich nicht verrückt sein. Natürlich will niemand verrückt sein, aber seit ich weiß, was mit mir geschieht, und seit ich verstehe, was in meinem Kopf vor sich geht, will ich noch weniger darüber nachdenken, was es bedeutet, zu wissen, dass man verrückt ist.
Zu wissen, dass seine Familie weiß, dass man verrückt ist.
Mein Stiefvater Paul ist ein netter Kerl. Er ist gut für meine Mom. Sie waren jahrelang zusammen, bevor sie geheiratet haben, und er hat sich immer Mühe gegeben, an meinem Leben teilzunehmen, mich nach der Schule zu fragen und so weiter. Er ist Anwalt und kann ihr die Dinge bieten, auf die sie verzichten musste, nachdem mein Dad uns verlassen hatte.
Aber seit er über mich, über die Krankheit, Bescheid weiß, hat sich alles verändert. Er weiß nicht mehr, wie er mit mir umgehen soll. Wir schauen immer noch gemeinsam fern, aber sobald ich im Zimmer bin, kann ich beinahe hören, wie er angestrengt nachdenkt. Das seltsamste Gefühl – abgesehen davon, Dinge zu sehen, die nicht wirklich da sind – ist, neben einem erwachsenen Mann auf der Couch zu sitzen, der auf einmal Angst vor mir hat. Früher hatte er keine Angst. Es ist ziemlich schwierig, das nicht persönlich zu nehmen.
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