ibidem-Verlag, Stuttgart
Der europäische Integrationsprozess, der in gut 70 Jahren einen in der bisherigen Geschichte und gegenwärtigen Welt singulären Staatenverbund, die heutige Europäischen Union, hervorgebracht hat, war von Beginn an auch von kritischen Stimmen und ablehnenden Haltungen begleitet.
Dabei haben sich im Laufe der Jahrzehnte die politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über Ziele, Zwecke, Mittel und Formen der Integration verändert. Während der öffentliche Europadiskurs lange Zeit durch einen „permissive consensus“ charakterisiert war, der sich dadurch auszeichnete, dass Bevölkerungsmehrheiten dem Integrationsgeschehen wohlwollend aber passiv gegenüberstanden, führten die weitreichenden Veränderungen des Integrationssystems in den 1980er und 1990er Jahren (Binnenmarktvollendung, Währungsunion, mehrere Erweiterungsrunden etc.) zu einer sukzessiven Politisierung. Mit dem Kompetenzzuwachs der EU rückten neben grundlegenden Architektur- und Finalitätsfragen (wirtschaftlicher Zweckverband oder föderale Politische Union) auch einzelne EU-Politikfelder (die mittlerweile von A, wie Agrarpolitik, bis Z, wie Zuwanderung reichen) in den Fokus öffentlicher Kontroversen in den Mitgliedstaaten der Union.
Vor diesem Hintergrund eines sich ausdifferenzierenden und intensivierenden Europadiskurses hat sich innerhalb der EU-Integrationsforschung ein Forschungsstrang entwickelt, der sich unter dem Begriff des „Euroskeptizismus“ mit EU-kritischen gesellschaftlichen Strömungen auseinandersetzt und der die verschiedenen politischen Erscheinungsformen des Euroskeptizismus thematisiert, welcher von konstruktiven und moderaten Kritiken an Teilbereichen der EU bis zu einer fundamentalen Kritik und Ablehnung des Gesamtsystems reicht.
Dieser Forschungsansatz wurde und wird durch Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart sowohl empirisch als auch theoretisch mit zahlreichen neuen Fragen konfrontiert. Denn die Überlagerung gleich mehrerer Krisen historischen Ausmaßes in der vergangenen Dekade – Weltfinanzmarktkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise – hat dazu geführt, dass in der EU neben ökonomischen und sozialen Disparitäten auch soziokulturelle Identitätskonflikte zugenommen haben, was nicht zuletzt mit einer Stärkung rechtspopulistischer Parteien und nationalistischer Kräfte einhergegangen ist. Diese Entwicklungen und Kräfteverschiebungen haben wiederum Politikergebnisse hervorgebracht, die bis vor kurzem noch undenkbar waren, wie etwa das britische Votum für einen EU-Austritt oder Regierungen in einzelnen EU-Mitgliedstaaten, deren Grundhaltung und Praxis antidemokratisch ist und die sich einer nationalistischen, integrationsfeindlichen Rhetorik bedienen.
In diesem europapolitischen Kontext, der in seinen zentralen Konfliktlinien durch die heute noch nicht absehbaren integrationspolitischen Folgen der Corona-Pandemie eine weitere Politisierung erfahren dürfte, ist die vorliegende Studie angesiedelt.
Julian Wessendorf leistet in seiner Untersuchung „Euroskeptizismus auf dem Vormarsch. Positionen der politischen Rechten im Europaparlament “ einen wichtigen Beitrag zur politikwissenschaftlichen EU-Forschung. Die Studie reiht sich zugleich ein in jüngere und laufende Forschungsarbeiten des Center for Intercultural and European Studies (CINTEUS), darunter Arbeiten zur politischen Rechten in Europa, zur Frage einer kollektiven Europäischen Identität und zur demokratischen Legitimation der EU.
Die Untersuchung widmet sich den europapolitischen Vorstellungen EU-kritischer, rechtspopulistischer Parteien in der EU. Dazu werden fünf Parteien ausgewählt, deren Programmatik und politisches Agieren im Zeitraum der vergangenen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments (2014 - 2019) und der jüngsten EP-Wahl 2019 analysiert werden: der französische Front National, die United Kingdom Independence Party (UKIP), die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), die Alternative für Deutschland (AfD) und die italienische Lega Nord. Die empirische Grundlage der Untersuchung bilden die jeweiligen Partei- und Wahlprogramme, die – angeleitet durch Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse – systematisch ausgewertet und verglichen werden.
Um diese Befunde in historischer und politischer Hinsicht angemessen einordnen und bewerten zu können, wird die Programmanalyse in zwei Schritten theoretisch eingebettet. In einem ersten Schritt präsentiert der Autor kenntnisreich und sorgfältig die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Euroskeptizismus-Forschung und gewinnt aus einer kritischen Auseinandersetzung ein eigenes Kategoriensystem, das die empirische, inhaltsanalytische Untersuchung anleitet. In einem zweiten Schritt wird der Stand der Parteienforschung mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand reflektiert und rezipiert. Das dadurch gewonnene begriffliche Raster entlang einschlägiger Parteientypologien (national-konservativ, rechtspopulistisch, rechtsextrem etc.) trägt seinerseits dazu bei, die empirischen Befunde differenziert zu erfassen und vergleichend einzuordnen.
Gerade in dieser gelungenen Verbindung von relevanten Theoriebeständen der Euroskeptizismusforschung und Rechtspopulismusforschung mit einer vergleichend angelegten empirischen Untersuchung der europäischen Programmatik maßgeblicher Rechtsparteien in fünf europäischen Ländern liegt das besondere Verdienst dieser Untersuchung. Denn auf diese Weise gelingt es Julian Wessendorf, ein differenziertes, empirisch fundiertes Bild der Europapolitik der politischen Rechten im geschichtlichen und gegenwärtigen Spektrum euroskeptischer Diskurse zu zeichnen und zugleich die Bedingungen und Grenzen des Zusammenwirkens dieser Parteien auf europäischer Ebene sichtbar zu machen.
Die Studie bietet methodische, konzeptionelle und inhaltliche Anregungen für eine weitergehende wissenschaftliche Debatte. In Zeiten einer Gefährdung des europäischen Projekts und eines mühsamen politischen Ringens um dessen Zukunft liefert sie zugleich auch wichtige politische Erkenntnisse für einen aufgeklärten gesellschaftlichen Europa-Diskurs.
Hans-Wolfgang Platzer,
im Januar 2021
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Euroskeptizismus und die politische Rechte
2.1 Was ist Euroskeptizismus?
2.1.1 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Euroskeptizismus und der aktuelle Forschungsstand
2.1.2 Schwierigkeiten mit der Begrifflichkeit des Euroskeptizismus
2.1.3 Erklärungen für Euroskeptizismus
2.2 Das (ideologische) Spektrum der politischen Rechten
3 Euroskeptizismus im Europaparlament
3.1 Methodisches Vorgehen und Untersuchungsansatz
3.2 Historische Betrachtung des Euroskeptizismus im Europäischen Parlament
3.3 Schwierigkeiten der Fraktionsbildung in der 8. Legislaturperiode des Europäischen Parlaments
3.4 Analyse ausgewählter Parteien des Europaparlaments
3.4.1 Der Front National
3.4.2 Die United Kingdom Independence Party
3.4.3 Die Freiheitliche Partei Österreichs
3.4.4 Die Alternative für Deutschland
3.4.5 Die Lega Nord
3.5 Erstes Zwischenfazit: Einordnung der Ergebnisse
3.5.1 Einordnung der Parteien in das politische Spektrum
3.5.2 Dimensionen des Euroskeptizismus in den Parteiprogrammen
3.6 Analyse der Wahlprogramme zu den Europawahlen 2019
3.6.1 Das Rassemblement National
3.6.2 Die United Kingdom Independence Party
3.6.3 Die Freiheitliche Partei Österreichs
3.6.4 Die Alternative für Deutschland
3.6.5 Die Lega
3.7 Zweites Zwischenfazit: Einordnung der Ergebnisse
4 Abschließende Betrachtung
5 Literatur- und Quellenverzeichnis
5.1 Literaturverzeichnis
5.2 Quellenverzeichnis
6 Anhang
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