Mit Axel hatte ich über eine gewisse Zeit kaum Kontakt. Da wir inzwischen auf verschiedene Schulen gingen (Axel besuchte die Haupt- und ich die Realschule), sahen wir uns nicht mehr täglich auf dem Pausenhof. Ich war es zuvor ja auch überwiegend, welcher auf seine Kontaktaufnahme angewiesen war, da wir von seiner Mutter aus immer noch unter „offiziellem Treffverbot“ standen. Unser Kontakt war für ein knappes Jahr, es muss so im Jahre 2006 bis 2007 gewesen sein, recht eingeschlafen. Ich fragte mich häufiger, wie es ihm denn ginge und warum er sich nicht mehr meldete. Hatte er bessere Freunde gefunden? Wir hatten uns nicht gestritten und trotzdem war der Kontakt irgendwie eingeschlafen.
Eine Zeit lang versuchte ich krampfhaft, mit den Jungs aus meiner Klasse engere Freundschaften aufzubauen, indem ich mich im Sommer mit ihnen am See zum Schwimmen verabredete. Und obwohl sie mich dort immer wieder ärgerten, indem sie meine Luftmatratze und mein aufblasbares Krokodil heimlich mit Urin füllten, meine mitgebrachten Süßigkeiten aufaßen, ohne mir etwas abzugeben und mich in der Runde mit doofen Sprüchen stichelten, ging ich immer wieder erneut mit ihnen zum See um in Gesellschaft zu sein. Tief im Inneren wusste ich ganz genau, dass ich nicht wirklich dazugehörte und im Grunde nur „anwesend“ war. Es war keine sehr feinfühlige und verständnisvolle Gesellschaft. Was mich nicht störte, aber ich war trotzdem sensibler. Ich tat so, als würden mir jene Streiche nichts ausmachen und ich stünde drüber. Irgendwie war ich tief im Inneren sogar dankbar, dass ich mit dabei sein durfte. Trotz sämtlicher Sticheleien, welche ich teilweise aus Schulzeiten bereits gewohnt war.
Irgendwann hatte ich jedoch nicht länger die Kraft, jenen Gemeinheiten standzuhalten und bevorzugte es, zuhause zu bleiben. Ich spielte häufig mit meinem Bruder Finn, welcher inzwischen auch schon in die Grundschule ging. Im Jahr zuvor hatte ich ihm bereits schon das Lesen beigebracht. Schnell zeigte sich, dass er über eine ausgeprägte Intelligenz verfügte und sehr schnell begriff. Ohnehin hatte er sich in Kindertagen schon immer sehr viel mit Dingen beschäftigt, welche teilweise über seine altersentsprechenden Fähigkeiten gingen. Finn konnte bereits im zarten Alter von 5 Jahren fließend Autobahnkarten entziffern und kannte nahezu jede wichtige Straßenabfahrt, welche wir (auch im Urlaub bei meiner Oma in Thüringen) häufiger nutzten. Ferner interessierte er sich für den Weltraum und konstruierte regelmäßig wunderschöne Kunstwerke mit Magnetkugeln und deren Verbindungsstücken. Ein IQ-Test, welchen meine Mutter in Kindertagen durchführen ließ, bestätigte seine Intelligenz.
Auch in puncto Konsolenspiele trat er schon bald in meine Fußstapfen und spielte selbst leidenschaftlich gerne an der Nintendo 64 und am Computer. Durch viele Stunden des Zusehens hatte er hierfür den benötigten Grundstein. Während mein Spiel-Eifer diesbezüglich irgendwann ab der Pubertät abflaute, legte er erst so richtig los. Bis heute ist er ein leidenschaftlicher Gamer, wenn er in freien Stunden dazu kommt.
Über den Computer meiner Mutter erstellte ich mir im Jahr 2007 einen ICQ-Account, meldete mich in einem sozialen Netzwerk für Jugendliche an und schloss online schon bald einige neue Kontakte. Und auch wenn ich mit 95 % jener Menschen niemals im wahren Leben in Kontakt kam, fühlte sich diese neue Welt so sicher und vertraut an.
Überwiegend viel war ich zu dieser Zeit bei meinen Großeltern zu Besuch, welche eine ganze Weile über wie meine besten Freunde waren. Täglich half ich ihnen im Garten, badete viele Stunden im Pool und spielte ausgiebig mit den Wildkatzen, welche durch die regelmäßigen Fütterungen meiner Großeltern bald ganz zahm wurden. Wir unternahmen regelmäßig schöne Dinge miteinander. Besuche auf dem Weihnachtsmarkt, in Museen und Gartenfachgeschäften, um nur einige zu nennen.
Einmal kam es in dieser Zeit zu einem großen Eklat, woraufhin ich eine sehr lange Zeit den Kontakt zu meinen Großeltern und meinem Vater verweigerte. Meine Großtante, meines Opas Schwester, feierte einen runden Geburtstag, zu welchem die ganze Familie väterlicherseits eingeladen war. Alle – bis auf mich. Ich durfte nicht mitkommen mit der Begründung, ich hätte doch am nächsten Tag Schule und müsse früh ins Bett. Könnte man denn nicht in diesem Fall eine Ausnahme machen, fragte ich mich. Ich bettelte viele Tage, auch an der großen Feier teilnehmen zu dürfen. Ich erinnerte mich an die runden Geburtstage meiner Großeltern, zu welchen ich ebenfalls mitkommen durfte und tolle Feiern veranstaltet wurden. Ich liebte derartige Feierlichkeiten als Kind abgöttisch. Irgendjemand fand sich immer, der sich für meine Malereien begeistern konnte, während alle anderen Erwachsenen langweilige Unterhaltungen führten. Und außerdem war stets das Essen so gut und ausgefallen …
Wenigstens mein Vater schien zu mir zu halten. Um mich zu schonen behauptete er, nicht zur Feier zu gehen, weil er ebenfalls am Folgetag aufstehen müsste. Diese Tatsache erleichterte mir die schmerzliche Erkenntnis, ausgeschlossen worden zu sein. Immerhin ging mein Vater auch nicht hin … so dachte ich zumindest.
Einige Tage später erfuhr ich durch meine Großeltern, dass er wohl doch bei der Feierlichkeit dabei gewesen war und fühlte mich hintergangen. Nicht, dass ich es ihm nicht von Herzen gegönnt hätte, so wie allen anderen auch. Aber es fühlte sich so gemein an, dass es allen anderen vergönnt war, nur nicht mir. Was hatte ich wohl alles verpasst? Ich besuchte sie anschließend für einige Zeit nicht mehr und war äußerst eingeschnappt.
Ich verspürte ein ähnlich starkes Gefühl der Ausgeschlossenheit, als für meine Klasse im 7. Schuljahr eine Woche im Schullandheim bevorstand. Diese sollte hauptsächlich aus langen Wanderausflügen und Tagen im Kletterwald bestehen. Als ich erstmals davon hörte, freute ich mich sehr darauf. Bis mir meine Lehrerin verkündete, ich dürfe aufgrund meiner Sehnenverkürzung nicht mitgehen. Sie hielt es körperlich für zu anspruchsvoll, da sie einen vergangenen Schulausflug im Zoo noch deutlich vor Augen hatte. An jenem Tag tat mir nach vielen Stunden des Laufens der rechte Fuß unendlich weh und ich musste mich des Öfteren hinsetzen und pausieren. Es wäre daher nur in meinem Sinne und auch in jenem meiner Klasse, da nicht 35 andere Kinder ständig Rücksicht auf einen Einzelnen nehmen könnten. Ich sollte diese Woche in der Parallelklasse verbringen, welche ganz normalem Unterricht nachging.
Meine Mutter fand diese Entscheidung ebenfalls nicht korrekt und versprach mir dafür zu sorgen, dass ich jene Woche wenigstens zuhause bleiben dürfte und nicht „zur Strafe“ noch den regulären Unterricht besuchen müsste, während sich meine Klassenkameraden im Kletterwald amüsieren durften. Nachdem sie mit meiner Klassenlehrerin gesprochen hatte, bestand das Ende vom Lied darin, dass ich jene Woche nun doch in der Parallelklasse verbringen musste. Angeblich waren meine Noten so bescheiden, dass mir eine Woche zusätzlicher Lernstoff alles andere als schaden würde. Vielen Dank auch fürs Gespräch …
Die innere Frustration über meinen eingeschränkten Fuß und die allgegenwärtige bildliche Vorstellung meiner Klassenkameraden, welche nun Spaß haben durften, während ich im regulären Unterricht saß, nagten an meinem Gemüt.
„Gesunde“ Kinder dürfen nun einmal Spaß haben, Krüppel nicht. Mein Selbsthass hatte mal wieder ordentlich Futter bekommen. Dass dies aus reiner Rücksicht für alle Parteien erfolgte, kam mir nicht in den Sinn. Heute verstehe ich meine Lehrerin und ihre Entscheidung nur zu gut. Ihr tat es im Grunde ja selbst leid, was sie mir im Nachhinein auch noch einmal beteuerte. Sie schenkte mir zum Trost ein kleines Notizblöckchen, auf welchem lustige Kühe abgebildet waren. Als mir meine Mitschüler von der Zeit im Schullandheim erzählten, wollte ich nichts hören. Zu groß war die Angst, etwas besonders Schönes verpasst zu haben. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Verdrängung? In Wirklichkeit interessierte es mich brennend …
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