An diesem Samstag fuhr ich morgens mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof, meine große Fahne war selbstverständlich dabei. Dort empfingen mich meine Freunde wie immer mit lauten Gesängen. Der Frust von München war spätestens jetzt bei allen vergessen. Wir wollten auf den Bahnsteig gehen, als ich merkte, dass mein Portemonnaie weg ist. Ausweis, Zugfahrkarte und Eintrittskarte sowie mein gesamtes Bargeld, alles war weg. Aber in diesem Moment zeigte sich wieder einmal, wie schön es ist, wenn man gute Freunde hat. Es wurde nicht lange diskutiert und meine Freunde griffen in die Tasche, legten das Geld zusammen und kauften mir eine Fahrkarte und später in Hannover sogar noch die Eintrittskarte. Bratwurst und Bier brauchte ich an diesem Tag auch nicht bezahlen. Ja, meine Freunde und ich haben immer zusammengehalten und alles gemeinsam durchgestanden. Es war eine schöne und wilde Zeit, die ich nicht missen möchte.
Das Finale haben die Schalker souverän mit 5:0 gewonnen, die Tore schossen Helmut Kremers (15., 82.), Klaus Scheer (20.), Herbert Lütkebohmert (57.) und Klaus Fischer (66.). Nach dem verpatzten Pokalfinale 1969, bei dem ich aufgrund von Windpocken das Spiel am Radio im Bett verfolgen musste, war dies nun mein erstes Pokalfinale „live im Stadion“. Und es sollte nicht das letzte bleiben.
Drei Tage nach dem Pokalsieg habe ich mich bei der Bundeswehr als Zeitsoldat beworben. Am 1. Oktober 1972 begann meine Dienstzeit und der Kontakt zu meinen Freunden wurde leider immer weniger. Natürlich haben wir uns in den folgenden Monaten noch regelmäßig in der Kurve getroffen. Aber wie es im Leben meistens ist, die gemeinsamen Zeiten werden im Alter weniger und irgendwann trennen sich die Wege oftmals sogar für immer.
Die kühle Susanne aus der Nordkurve ist die einzige, mit der ich heute noch ein wenig Kontakt über Facebook habe. Und das freut mich sehr. Immer wenn ich etwas von ihr höre, denke ich an die alten Zeiten zurück, als Rolli noch ein richtig verrückter Schalker war, der mit seinen Jungs loszog …
»Ich bin in einem Alter, in dem man Jugendsünden gestehen sollte, bevor man sie vergisst.«
(Ephraim Kishon)
1975 – Meine erste eigene Bude.
Welcher Mann träumt nicht davon, ein Zimmer in seinem Vereinslokal zu haben? Ja, genau dort war meine erste eigene Bude. Ich wohnte über dem Vereinslokal von Beckhausen 05, „Der Sportplatz “ , ganze 400 Meter von meinem Elternhaus entfernt. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, mir eine eigene Wohnung zu nehmen. Aber da ich sowieso immer einer der letzten Gäste in unserem Vereinslokal war, glaubte eh jeder, dass ich in der Kneipe wohnte.
Meine Wirtin Gudrun war 24 Jahre jung und seit sechs Jahren mit Wolfgang verheiratet, die beiden hatten einen dreijährigen Sohn namens Thomas. Ich hatte von Anfang an sehr guten und engen Kontakt zu Gudrun. Nicht mehr, nicht weniger. Sie war meine Wirtin. Unabhängig davon stand ich eher auf Mädels mit langen blonden Haaren, ohne Brille und ohne Sommersprossen. Gudrun hatte zwar keine Brille, aber sie hatte kleine Sommersprossen und sie war nun einmal nicht blond. Auch wenn ich zugeben muss, dass die Sommersprossen niedlich aussahen, spielte das keine Rolle, denn Gudrun war meine Wirtin. Aber wir fanden uns sympathisch, verstanden uns ausgezeichnet und vertrauten uns immer und überall.
Neben der Gaststätte befand sich die Pächterwohnung im Erdgeschoss. Zu dieser Wohnung gehörte noch ein weiterer Raum, der jedoch nie benutzt wurde. Er befand sich nämlich in der dritten Etage unter dem Dach. Das Zimmer war vielleicht 15 qm groß und hatte nur ein Waschbecken, sonst nichts. Daneben war der Dachboden, in dem die sieben Mietparteien ihre Wäsche trockneten.
Als ich eines Morgens, nach einer durchzechten Nacht im Vereinslokal, gefragt wurde, wann ich nach Hause gegangen wäre, antwortete meine Wirtin Gudrun: »Wie immer. Rolli war der Letzte. Er kann hier wirklich bald einziehen.« Alle lachten und ich sagte: »Genau, und morgens komme ich dann immer zum Frühstücken zu euch nach unten« und wir alle hatten unseren Spaß. Es konnte ja auch niemand damit rechnen, dass aus dem Spaß schon am anderen Tag Ernst wird.
Und so kam der andere Tag. Wie immer haben wir uns vor den Heimspielen im Vereinslokal getroffen. Meine Wirtin Gudrun fragte mich plötzlich ernsthaft, ob ich das Zimmer haben möchte. Für 50 DM könnte ich die Bude haben, Nebenkosten wie Strom und Heizung sind inklusive, allerdings hat das Zimmer keine Toilette. Daraufhin habe ich mir die Bude einmal etwas genauer angeschaut und bekam doch irgendwie Zweifel. Seit Jahren hat hier keiner mehr gewohnt, das war nicht zu übersehen. Das Zimmer musste entrümpelt, die alten Tapeten entfernt und die Wände neu tapeziert werden. Die Tür und das Fenster brauchten einen Anstrich und der Teppich musste entsorgt werden. Solche Arbeiten habe ich nie machen müssen. Aber trotzdem sagte ich nach kurzem Zögern zu, schließlich musste ich die ersten zwei Monatsmieten nicht bezahlen. Das Geld diente als Renovierungszuschuss. Jetzt musste ich meinen Eltern nur noch beichten, dass ich mir „mal so nebenbei“ eine eigene Bude besorgt habe und ausziehen werde. Ich überlegte, was ich ihnen sagen könnte.
»Ich bin doch nur knapp 400 Meter von euch weg. Zum Essen und Kacken komme ich wahrscheinlich eh jeden Tag vorbei und die schmutzige Wäsche bringe ich dann auch gleich mit. So gesehen ist das ja eigentlich kein Auszug aus dem Elternhaus.« Genau so wollte ich meinen Eltern den Auszug erklären. Die Frage: »Ach Papa, du weißt ja, dass ich immer so wenig Zeit habe. Kannst du mir die Bude mal schnell renovieren?« wollte ich so ganz nebenbei stellen. Das wird er bestimmt machen , dachte ich. Dachte ich …
Meine Mutter sagte gar nichts zum Auszug und mein Vater zeigte mir den Vogel. »Mach deinen Mist doch allein, wenn du selbstständig sein willst«, meinte er. Aber mein Vater wäre nicht mein Vater, wenn er mir nicht die Bude renoviert hätte. Während ich mit meinen Freunden und mit meiner großen Fahne beim Schalker Auswärtsspiel alles gegeben habe, durfte mein Vater allein die Bude entrümpeln und renovieren. In der darauffolgenden Woche ist meine Mutter mit mir nach Buer gefahren und wir haben ein richtiges Jugendzimmer gekauft. Ja, meine Mutter war beim Kauf dabei. Immerhin hat sie die Hälfte des Geldes dazugegeben.
So hatte ich schnell meine erste eigene Bude. Aber es gab ja noch das Problem mit der fehlenden Toilette. Solange das Vereinslokal geöffnet hatte, konnte ich dort das stille Örtchen aufzusuchen. Aber die Kneipe hatte ja leider nicht immer geöffnet. An Ruhetagen habe ich also die Toilette bei meinen Eltern aufgesucht, der Weg dorthin war ja nicht weit. Als lustiger Junggeselle ging die Party bei mir aber häufig weiter, auch wenn die Wirtin Feierabend machte.
Ich gebe zu, wenn mit 21 Jahren die Sinne von mehreren Bierchen umnebelt sind und in deinem Zimmer ein paar betrunkene junge Leute feiern, machst du Sachen, über die du im Alter nur den Kopf schütteln kannst. Egal ob Jungs oder Mädels, alle haben das Waschbecken auf dem Dachboden als Ersatztoilette genutzt. Natürlich bekamen die Nachbarn schnell mit, was bei mir abging. Zwei bis dreimal in der Woche stieg die Party mit viel Lärm, Musik und Mädels, die Schritte auf dem Dachboden waren überall zu hören. Schon in der ersten Woche meiner eigenen Bude hat sich die Hälfte der Mieter beschwert, in der zweiten Woche die restlichen Mieter. Irgendwie verständlich, denn hätte ich damals von jedem Übernachtungsgast 10 DM genommen, hätte ich ohne Probleme die Miete für ein ganzes Jahr im Voraus bezahlen können. Wenn meine Freunde in der richtigen Bierlaune waren, haben sie teilweise mit vier oder fünf Leuten bei mir geschlafen. Meistens waren es zwar nur ein paar Stunden, aber das lag eher daran, dass wir bis zum Morgengrauen feierten.
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