Für gute fünf Minuten blieb die Straße so schlecht, dann wurde sie besser, aber Anders’ Erleichterung währte nicht lange. Jannik fuhr nur noch ein paar hundert Meter weit, dann bog er plötzlich in einen schmalen Waldweg ein, der nach wenigen Schritten vor einer massiven Metallschranke endete. Jannik stieg aus, zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete das schwere Vorhängeschloss, mit dem die Barriere gesichert war. Noch immer ohne ein Wort der Erklärung stieg er wieder ein, fuhr fünf Meter weit und wiederholte die Prozedur dann in umgekehrter Reihenfolge.
»Aha«, sagte Anders, als sie weiterfuhren.
»Wir sind spät dran«, erklärte Jannik unaufgefordert. »Wenn wir durch den Wald fahren, sparen wir gute fünf Kilometer.«
»O ja, und es geht auch so schnell«, sagte Anders spöttisch. »Und ganz zufällig hält die Schranke jeden Verfolger auf. Sogar einen weißen Lieferwagen.«
»Unsinn«, widersprach Jannik. »Diese Strecke hier ist viel schöner. Ich dachte, du liebst die Natur.«
Anders resignierte. Wenn Jannik nicht über etwas reden wollte, dann tat er es nicht, basta. Aber dass er ihm etwas verschwieg, war klar. Vielleicht würde er ja später mit ihm reden, wenn sie sicher im Flugzeug saßen und auf dem Weg nach Genua waren.
Dennoch war ein spürbarer Missklang zwischen ihnen entstanden. Gute zehn Minuten lang fuhren sie in unbehaglichem Schweigen dahin. Der Wagen sprang wie ein bockendes Wildpferd aus Metall durch jedes einzelne Schlagloch, nach denen Jannik regelrecht zu suchen schien, und ein paarmal wurde der Weg so schmal, dass Anders nicht mehr sicher war, ob sie es überhaupt schaffen würden. Dann aber rumpelten sie über eine Kuppe, und der Wald wurde nicht nur lichter, sondern der Weg auch viel breiter. Nach guten hundert Metern war die Straße sogar geteert.
»Das Schlimmste ist überstanden«, sagte Jannik. »Von hier ab bleibt die Straße so gut.«
»Dann können wir ja auch die Plätze tauschen«, schlug Anders vor.
Jannik sah ihn – scheinbar – verständnislos an, aber darauf fiel Anders nicht herein. »Komm schon. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass du mich fahren lässt. Du weißt, ich kann es.«
Selbstverständlich wusste Jannik das. Schließlich hatte er es ihm selbst beigebracht. Trotzdem schüttelte er nach kurzem Überlegen den Kopf. »Das war etwas anderes«, behauptete er. »Auf einer abgesperrten Straße.«
»Ach, und was ist das hier?«, fragte Anders. »Gib deinem Herzen einen Stoß. Nimm es als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk.«
»Du hast in vier Monaten Geburtstag«, erinnerte Jannik.
»Deshalb sage ich ja auch vorgezogen«, beharrte Anders.
»Das kann ich nicht machen«, sagte Jannik. »Dein Vater bringt mich um, wenn er erfährt, dass ich dich ans Steuer gelassen habe.«
»Das erzähle ich ihm sowieso«, erwiderte Anders. »Es sei denn, du lässt mich fahren. Nur hier im Wald, wo es niemand sieht.«
»Das ist Erpressung!«, beschwerte sich Jannik.
»Stimmt«, sagte Anders. »Aber ich bekomme mildernde Umstände. Erstens lässt du mir keine Wahl und zweitens bin ich ein verwöhnter, reicher Bengel, der es gewohnt ist, alles zu bekommen, was er will.«
Jannik hatte sichtlich Mühe, weiter ernst zu bleiben, aber er spielte perfekt noch ein paar Sekunden lang den Beleidigten, ehe er schließlich mit grimmigem Gesichtsausdruck anhielt und ausstieg.
Während er mit raschen Schritten um den Wagen herumging, rutschte Anders auf den Fahrersitz und legte die Hände auf das riesige Steuer. Natürlich wusste Jannik, dass sein kleiner Erpressungsversuch nicht ernst gemeint gewesen war. Aber solche Spielchen gehörten einfach dazu. Jannik wäre wahrscheinlich enttäuscht gewesen, hätte Anders ihn einfach nur gebeten ihn ans Steuer zu lassen.
Er wartete, bis Jannik auf der anderen Seite eingestiegen war und sich angeschnallt hatte, griff nach seinem eigenen Sicherheitsgurt, ließ den Verschluss einrasten und trat dann vorsichtig die Kupplung durch. Das Getriebe knirschte hörbar, als er den Gang einlegte, und Jannik verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen.
»Sei bitte vorsichtig«, sagte er. »Dieser Wagen ist ziemlich teuer.«
»Ich habe das Fahren darauf gelernt«, erinnerte Anders.
»Hast du nicht«, behauptete Jannik. »Ich habe jedes Mal heimlich einen neuen gekauft, nachdem du damit gefahren warst.«
Anders zog eine Grimasse, enthielt sich aber vorsichtshalber jeden Kommentars. Tatsächlich hatte er den Hummer in den Graben gefahren, als Jannik ihn das allererste Mal ans Steuer gelassen hatte, und dabei einen ziemlichen Schaden verursacht. Jannik hatte die Schuld damals auf sich genommen, und soweit Anders wusste, hatte sein Vater niemals die Wahrheit erfahren. Trotzdem war es besser, wenn das nicht zu einer schlechten Angewohnheit wurde. Anders’ Vater war schließlich nicht dumm. Falls Jannik jedes Mal ausgerechnet dann einen Unfall baute, wenn er mit ihm zusammen war, würde er früher oder später eins und eins zusammenzählen und zu einem Ergebnis kommen, das Jannik eine Menge Ärger einbringen konnte.
Anders vertrieb die unerfreulichen Gedanken und konzentrierte sich lieber darauf, den Wagen allmählich zu beschleunigen und dabei nach Möglichkeit auf der Straße zu bleiben. Es war ein halbes Jahr her, seit Jannik ihn das letzte Mal ans Steuer gelassen hatte, und der Hummer war alles andere als ein gutmütiges Fahrzeug. Außerdem waren sie bisher tatsächlich nur auf abgesperrten und gut ausgebauten Straßen gefahren, nicht auf einem holperigen, abschüssigen Waldweg, der noch dazu in zahllosen Serpentinen abwärts führte. Es dauerte eine Zeit, bis er ein Gefühl für das Steuer und vor allem die komplizierte Schaltung des Allradantriebes bekam – aber als er es einmal hatte, fuhr er so sicher, dass Jannik ihn verblüfft ansah und Anders seine Gedanken regelrecht auf seiner Stirn ablesen konnte.
»Du bist ganz sicher, dass es außer mir niemanden gibt, der dich ab und zu fahren lässt?«, fragte er.
»Bestimmt nicht«, sagte Anders. Das war die Wahrheit. Anders war beinahe selbst ein wenig erstaunt, wie leicht es ihm fiel, den Wagen zu fahren. Aber er hatte schon immer eine schnelle Auffassungsgabe gehabt und ein natürliches Verständnis für alles, was mit Technik zusammenhing, das fast so groß war wie Janniks Abneigung gegen dieselbe.
Aber auch darüber konnte er später noch nachdenken. Im Augenblick konzentrierte er sich lieber darauf, die Fahrt zu genießen; und das tat er auch in vollen Zügen. Bald hatte er den Wagen so gut in der Gewalt, dass Jannik ihn ein paarmal auffordern musste, es nicht zu übertreiben und langsamer zu fahren.
Viel zu schnell war es vorbei. Nach weiteren zwei oder drei Kilometern wurde der Weg wieder schmaler, und schließlich tauchte eine zweite gleichartige Schranke vor ihnen auf, wie die, die Jannik geöffnet hatte, damit sie in den Waldweg einbiegen konnten.
Während Jannik ausstieg um die Schranke zu öffnen, rutschte Anders wieder auf den Beifahrersitz hinüber. Er war enttäuscht, dass es vorbei war, aber zugleich auch von einem Hochgefühl beseelt, das er schon lange nicht mehr in dieser Intensität verspürt hatte.
»Das war wirklich nicht schlecht«, lobte Jannik, als sie weiterfuhren. Anders registrierte beiläufig, dass er sich diesmal die Mühe ersparte, die Schranke hinter ihnen wieder abzuschließen. »Wenn du erst einmal alt genug bist um den Führerschein zu machen, wird dein Vater eine Menge Geld für Fahrstunden sparen.«
»Ihm wird ein Stein vom Herzen fallen«, bestätigte Anders. »Danke.«
»Nichts zu danken«, antwortete Jannik mit gespieltem Zorn. »Schließlich hast du mich aufs Übelste erpresst.« Er wurde übergangslos wieder ernst. »Dein Pass ist in Ordnung?«
»Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, war er es noch«, antwortete Anders. »Heute Morgen, um genau zu sein. Aber ich sehe gerne noch einmal nach, wenn du darauf bestehst.«
Читать дальше