So schnell, wie er gerade noch konnte, ohne wirklich zu rennen, stürmte er den langen, mit dunklem Holz vertäfelten Flur entlang und lief die Treppe hinunter. Auch die gewaltige Eingangshalle war leer. Vor Jahren, als er das erste Mal hierher gekommen war, hatte ihn der riesige Saal mit dem in strengem Schachbrettmuster gefliesten Boden, den holzvertäfelten Wänden und der von mannsdicken Pfeilern getragenen und ebenfalls mit fast schwarzem Holz verkleideten Decke so beeindruckt, dass das Wort eingeschüchtert schon eher gepasst hätte; und zweifellos war dieser Effekt auch ganz genau der Grund, aus dem man sie so und nicht anders gebaut hatte. Heute verfehlte die Halle diese Wirkung total. Ganz im Gegenteil stieg Anders’ Laune mit jedem einzelnen federnden Schritt, den er sich der Tür näherte. Vor ihm lagen zwei Wochen Mittelmeer und eine Dreißig-Meter-Yacht. Adieu, Penne, willkommen, Abenteuer!
Anders war so in seine Vorfreude vertieft, dass er um ein Haar mit einem Mann zusammengestoßen wäre, der gerade einen Arm voll Pakete aus einem Lieferwagen hob, der unmittelbar vor der offen stehenden Tür abgestellt war. Allerdings war der andere auch nicht ganz unschuldig an dem Beinahezusammenstoß: Er drehte sich just in dem Moment um, in dem Anders mit schwungvollen Schritten aus der Tür trat; er musste entweder vollkommen in Gedanken versunken sein oder er hatte jemand komplett anderen erwartet. Als er Anders sah, fuhr er so heftig zusammen, dass er die Hälfte seiner Pakete fallen ließ, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, den Anders mit blankem Entsetzen beschrieben hätte, wäre ihm auch nur der geringste Grund dafür eingefallen. Auch die restlichen drei Pakete entglitten seinen Händen und polterten zu Boden (so leicht, wie sie davonrollten, schienen sie kaum etwas zu wiegen), und Anders konnte gerade noch einen ebenso hastigen wie ungeschickten Schritt machen, um nicht darüber zu stolpern und womöglich der Länge nach hinzuschlagen.
»Entschuldigung«, murmelte er. Mit einem zweiten, noch ungeschickteren Schritt und mehr Glück als Können fand er seine Balance wieder und drehte sich zu dem Mann im blauen Overall um. Der Dunkelhaarige hatte sich mittlerweile nach seinen Paketen gebückt und sammelte sie in aller Hast zusammen. Anders fiel auf, dass seine linke Hand schrecklich vernarbt war und er anscheinend Mühe hatte, die Finger richtig zu benutzen.
»Das tut mir wirklich Leid«, sagte er. »Kann ich Ihnen helfen?«
Der Dunkelhaarige sah hoch und durchbohrte ihn mit einem Blick, als hätte er ihn auf frischer Tat bei einem furchtbaren Verbrechen ertappt. Er schien etwas sagen zu wollen, aber dann verlagerte sich sein Blick auf einen Punkt irgendwo hinter Anders. Für eine Sekunde wurde er noch wütender, doch dann drehte er mit einem Ruck den Kopf und fuhr fort seine Pakete zusammenzuraffen. Als sich Anders trotzdem nach einem Päckchen bücken wollte, scheuchte ihn der Mann mit der Narbenhand mit einer wütenden Bewegung davon. »Lass das«, knurrte er. »Ich komme schon klar.«
Um ein Haar hätte Anders ihm die Antwort gegeben, die ihm seiner Meinung nach zustand – schließlich hatte er das kleine Missgeschick mindestens im gleichen Maße verschuldet wie er selbst! –, beließ es dann aber bei einem wortlosen Schulterzucken und wandte sich wieder um. Dabei fiel sein Blick auf den Lieferwagen, der mit weit offen stehenden Hecktüren vor der Treppe stand. Abgesehen von den Paketen, die der Dunkelhaarige gerade fluchend zusammenlas, war er fast vollkommen leer. In dem überraschend großen Laderaum befanden sich nur noch ein paar zerknüllte Decken und eine Rolle Klebeband. Hinter dem schmalen Fenster zur Fahrerkabine konnte Anders die Umrisse eines zweiten Mannes erkennen. Der Fahrer war nicht allein gekommen.
»Na, heute schon irgendwelche Gespenster gesehen?«
Anders schloss für eine Sekunde die Augen, zählte in Gedanken bis drei und drehte sich dann langsam um, als er die Stimme hinter sich hörte. Direkt vor ihm stand ein breitschultriger Hüne mit Lederjacke, streichholzkurz geschnittenem, blond gefärbtem Haar und einem Schweinegesicht, der ihn aus hämisch funkelnden Augen musterte. Nur einen Schritt daneben stand eine zweite Gestalt, die sich alle Mühe gegeben zu haben schien, zu einer Kopie von Schweinegesicht zu werden; allerdings einer billigen. Nick, der Stolz des Internats, und einer der beiden Hirnamputierten, die ihn auf Schritt und Tritt begleiteten.
»Nö«, antwortete Anders mit einiger Verspätung. »Nur zwei Arschlöcher.« Er registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln, wandte kurz den Kopf und verbesserte sich: »Drei.«
Nick wurde kreidebleich, und aus dem höhnischen Glitzern in seinen Augen wurde etwas, das aus Anders’ Verdacht, dass diese Worte vielleicht nicht besonders klug gewählt gewesen waren, fast so etwas wie Überzeugung machte. Aber schließlich hatte man ihm ja immer wieder beigebracht nicht zu lügen, oder?
»Hast wohl heute deinen witzigen Tag, wie?«, fragte Nick. Er kam mit wiegenden Schritten näher und das tückische Funkeln in seinen Augen verstärkte sich noch. Anders blieb seelenruhig stehen und es gelang ihm sogar, Nicks Blick irgendwie standzuhalten, aber in seinem Inneren sah es anders aus. Die drei Stooges waren die berüchtigtsten Rüpel des Internats und selbstredend hatten sie es auf ihn ganz besonders abgesehen. Meistens gelang es ihm, ihnen irgendwie aus dem Weg zu gehen, und solange sie einzeln auftauchten, musste Anders sie auch nicht fürchten. Unglücklicherweise waren sie jedoch nicht einzeln gekommen, und das immer bedrohlicher werdende Funkeln in Nicks Augen machte Anders klar, dass er es nicht bei ein paar Beleidigungen und Drohgebärden zu belassen gedachte.
»Hat’s dir auch noch die Sprache verschlagen?«, fragte Nick, als Anders auf die einzige Art antwortete, die nicht vollkommen selbstmörderisch war: gar nicht.
Anders schwieg noch immer. Seine Gedanken überschlugen sich. Nick stand jetzt nur anderthalb Schritte vor ihm, und die beiden anderen hatten sich so aufgestellt, dass sie zusammen mit Schweinegesicht Nick ein Dreieck bildeten, in dessen genauem Zentrum er sich befand. Oder anders ausgedrückt: Sie hatten ihn eingekreist. Keine Chance, zu entkommen.
»Anscheinend.« Nick beantwortete seine eigene Frage mit einem Nicken und einem breiten, aber nicht besonders humorvoll wirkenden Grinsen. »Na ja, ich an deiner Stelle hätte auch die Hosen voll.« Er machte eine Kopfbewegung auf den Rucksack, den Anders mit nur einem Riemen locker über die Schulter geworfen hatte. »Wo soll’s denn hingehen, Spinner?«
»Das ist eigentlich egal«, antwortete Anders. »Nur möglichst weit weg von dir.« Zugleich fragte er sich selbst hysterisch, ob er eigentlich noch ganz normal sei. Vielleicht bestand ja tatsächlich eine astronomisch geringe Chance, dass er ohne Knochenbrüche und allzu schwere innere Verletzungen aus dieser Geschichte herauskam – aber nur, wenn er auf der Stelle die Klappe hielt.
Auch noch die allerletzte Spur von Nicks Lächeln erlosch und in seinen Augen funkelte nun die pure Mordlust. »Du hast deinen witzigen Tag«, stellte er grimmig fest. Gleichzeitig ballte er die rechte Hand genüsslich zur Faust. Anders konnte seine Knöchel knacken hören. Seltsamerweise fixierte er dabei nicht direkt Anders. Sein Blick wanderte immer wieder zu einem Punkt hinter ihm. Dann begriff Anders. Er sah weder ihn noch seine beiden Kumpane an, sondern den Fahrer des Lieferwagens. Möglicherweise versuchte er abzuschätzen, ob sich der Mann einmischen würde, wenn er und seine Kumpane sich auf ihn stürzten.
Anders’ Gedanken überschlugen sich mittlerweile geradezu. Ein nicht kleiner Teil von ihm schien sich gerade auf einem Selbstvernichtungstrip zu befinden, und dieser Versuch könnte durchaus von Erfolg gekrönt sein.
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