»Was soll das?«, fragte Anders.
Jannik legte den Gang ein und fuhr los. »Ich überprüfe das Nummernschild später«, sagte er. »Man kann nie wissen.«
Fast gegen seinen Willen sah auch Anders noch einmal in den Rückspiegel und unterzog den Lieferwagen einer zweiten, etwas kritischeren Musterung, die allerdings ebenso ergebnislos verlief wie die erste. Ein älterer, schon etwas schäbig gewordener Lieferwagen ohne Aufschrift, das war alles.
»Hat dir schon jemand gesagt, dass du unter fortgeschrittener Paranoia leidest, Jannik?«, fragte er.
»Dein Vater zum Beispiel.« Jannik nickte. »Das war die Bedingung, unter der er mich eingestellt hat«, behauptete er.
Anders seufzte. Sie hatten das mit einem nur halb hochgezogenen Fallgatter gesicherte Burgtor erreicht, und Anders zog instinktiv den Kopf ein, als sie mit halsbrecherischem Tempo hindurchrasten. Unter den beiden Reifen des Jeeps spritzten Erdbrocken und Kies hoch, als sie die steile Auffahrt hinunterrasten, wobei sich meistens nur zwei Räder auf der Straße und die beiden anderen auf dem Randstreifen befanden. Obwohl er angeschnallt war, klammerte sich Anders mit beiden Händen am Sitz fest und ließ erst los, als sie auf die Straße hinausgeschlittert waren. Jeder andere Wagen außer dem Hummer hätte sich auf den letzten hundert Metern mindestens dreimal überschlagen, da war er sicher.
Jannik, dem seine plötzliche Nervosität natürlich nicht entgangen war, grinste breit. »Du hast doch nicht etwa Angst?«
»Wovor denn?«, gab Anders zurück. »Aber eine Frage habe ich: Du bist sicher, dass mein Vater dich dafür bezahlt, auf mich aufzupassen? Nicht, mich umzubringen?«
Jannik lachte. Er sagte nichts, doch er blickte noch einmal in den Rückspiegel und er fuhr noch immer viel zu schnell. Auch Anders drehte sich kurz im Sitz um und sah nach hinten. Das Schloss war schon fast außer Sicht gekommen. Er konnte gerade noch erkennen, wie der weiße Lieferwagen unter dem Tor auftauchte und den schmalen Serpentinenweg nach unten in Angriff nahm, aber natürlich sehr viel langsamer, als Jannik es getan hatte. Seufzend drehte er sich wieder nach vorne. »Du bist verrückt.«
»Nur vorsichtig«, verbesserte ihn Jannik.
»Du glaubst doch nicht wirklich, dass das mehr waren als harmlose Lieferanten!«
»Ich glaube gar nichts«, antwortete Jannik ernst. »Ich versuche zu wissen .«
»Aus welchem Esoterikbuch stammt denn das jetzt wieder?«, fragte Anders grinsend, aber Jannik blieb ernst.
»Du bist nicht irgendwer, Anders«, sagte er. »Dein Vater bezahlt mich dafür, dass ich auf dich Acht gebe.«
»Das bedeutet doch nicht, dass du hinter jedem Busch einen gedungenen Killer oder einen Möchtegern-Entführer sehen musst«, sagte Anders.
»Du weißt anscheinend immer noch nicht genau, wer dein Vater ist«, erwiderte Jannik. Anders wollte antworten, aber Jannik fuhr – nach einem weiteren raschen Blick in den Spiegel und mit leicht erhobener Stimme – fort: »Und damit auch du. Dein Vater ist ein sehr vermögender Mann.«
»Ach?«, meinte Anders spöttisch.
»Es geht nicht nur um Geld«, beharrte Jannik. »Mächtige Männer haben manchmal auch mächtige Feinde. Es ist einfach besser, wenn man vorsichtig ist.« Er lächelte. »Aber in diesem speziellen Fall hast du wahrscheinlich sogar Recht. Wahrscheinlich waren es wirklich nur harmlose Lieferanten.«
Anders deutete auf das Kennzeichen, das Jannik sich auf dem Handrücken notiert hatte. »Dann kannst du das ja auch wegwischen.«
»Nö«, antwortete Jannik grinsend. Er sah wieder in den Rückspiegel und er fuhr immer noch viel zu schnell. Erst als sie gute fünf oder sechs Kilometer vom Schloss entfernt waren, nahm er den Fuß ein wenig vom Gas. Aber wirklich nur ein wenig.
»Bist du schon aufgeregt?«, fragte er.
»Weil du am Steuer sitzt?«, fragte Anders zurück. »Sicher.«
»Immerhin sitzt du in einer Stunde im Flugzeug, und ein paar Stunden später geht es ab in Richtung Ägäis. Ich an deiner Stelle wäre aufgeregt.« Er hob die Schultern. »Außerdem siehst du deinen Vater wieder. Er freut sich jedenfalls schon sehr darauf, die nächsten Wochen mit dir zu verbringen.«
»Hat er denn so viel Zeit?«, fragte Anders. Die Worte taten ihm schon Leid, bevor er sie überhaupt ganz ausgesprochen hatte. Sie klangen viel bitterer, als sie gemeint gewesen waren. Jedenfalls redete er sich das ein.
»Eigentlich nicht«, antwortete Jannik achselzuckend. »Aber er nimmt sie sich eben für dich.« Er sah Anders rasch aus den Augenwinkeln an und vermutlich glaubte er sogar, dass dieser es nicht bemerkte. »Er freut sich wirklich darauf.«
»Ja, ich mich auch«, antwortete Anders, und auch das war ehrlich gemeint. Seltsam war nur, dass sogar ihm selbst der bittere Unterton in seiner Stimme auffiel. »Ich würde mich vielleicht noch mehr freuen, wenn es nicht nur zwei Wochen im Jahr wären.«
Jannik seufzte. »Ich dachte immer, es gefällt dir im Internat.«
»Das tut es auch«, antwortete Anders fast hastig. Er hätte sich selbst ohrfeigen können. Warum hatte er damit überhaupt angefangen?
»Ich bin oft mit deinem Vater zusammen«, meinte Jannik. »Eigentlich immer, wenn ich nicht bei dir bin. Ich sage das jetzt nicht, um deinen Vater in Schutz zu nehmen, aber glaub mir, du wärst nicht glücklicher, wenn du bei ihm leben würdest. Die Wochen, die ihr jetzt zusammen verbringt, sind seine gesamte Freizeit. Er ist sehr viel unterwegs und es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht erst nach Mitternacht nach Hause kommt.«
»Um noch ein paar Millionen zu verdienen?«, fragte Anders.
»Unsinn!«, widersprach Jannik mit einer Heftigkeit, die ihn selbst zu überraschen schien. Nach einer spürbaren Pause und in deutlich beherrschterem Ton fuhr er fort: »Es geht wirklich nicht um Geld. Dein Vater nimmt seine Arbeit sehr ernst. Sie ist wichtig, glaub mir. Und er hat eine Menge Verantwortung.«
»Wieso?«
»Zum Beispiel für die vielen Menschen, die für ihn arbeiten. Und auch noch für sehr viele andere.« Wieder zögerte er einen Moment und er wechselte abermals die Tonart, bevor er weitersprach. »Ist es wegen der drei Typen von gerade?«
Es dauerte einen Moment, bis Anders überhaupt verstand, wovon er sprach, aber dann schüttelte er überzeugt den Kopf. »Schweinchen Dick und seine Freunde? Nein.«
»Schweinchen Dick?« Jannik lachte.
»Eigentlich heißt er Nick, aber Schweinchen Dick passt irgendwie besser, finde ich.« Anders schüttelte abermals den Kopf. »Es hat nichts mit ihnen zu tun. Die drei sind der Schrecken der ganzen Schule. Sie legen sich mit jedem an. Bis die Ferien vorbei sind, haben sie die Sache längst vergessen. So weit reicht ihr Gedächtnis nicht. Ich verstehe bloß nicht, wieso sie nicht schon längst von der Schule geflogen sind.«
»Vielleicht weil ihre Eltern glauben, dass sie doch noch einmal die Kurve kriegen«, antwortete Jannik. »Und der eine oder andere Lehrer möglicherweise auch.«
»Die und die Kurve kriegen?« Anders ächzte.
»Gib ihnen eine Chance«, sagte Jannik gutmütig. »Sie sind jung. Für manche gehört es zum Erwachsenwerden, eine Weile über die Stränge zu schlagen.«
»Damit willst du mir durch die Blume mitteilen, dass ich noch nicht erwachsen bin«, vermutete Anders.
»Nein, bist du nicht«, antwortete Jannik ernst. »Und du solltest froh darüber sein.« Er tippte vorsichtig auf die Bremse, betätigte den Blinker und bog dann mit kreischenden Reifen von der Hauptstraße ab. Anders klammerte sich instinktiv wieder an seinem Sitz fest, obwohl Jannik nicht mehr halb so halsbrecherisch fuhr wie vorhin. Er hätte vielleicht sogar geantwortet, aber da der Wagen kaum gefedert war, wurde er so heftig hin und her geworfen, dass er gar nichts sagen konnte ohne Gefahr zu laufen, sich selbst die Zunge abzubeißen. Doch irgendwie war er zugleich auch fast froh über den miserablen Zustand der Straße. Es war ein guter Anlass, das Thema zu beenden, das ihm zunehmend unangenehmer geworden war.
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