Wie kommt es zu so hohen Werten bereits bei so basalen Fähigkeiten wie den Kulturtechniken? In der angloamerikanischen »Response to Intervention«-(RTI)-Tradition wird dieses Phänomen als Wait-to-Fail-Problem bezeichnet (Reynolds & Shaywitz, 2009): Werden Kinder von der schulischen Leistungsentwicklung langsam abgehängt, so entwickelt sich ein Problem, das bei frühzeitiger Erkennung und Intervention möglicherweise gar nicht entstanden wäre. Das Problem muss aber erst eine gewisse Intensität aufweisen, bevor es bemerkt wird. Erst dann setzt i. d. R. eine Diagnostik ein, die zu einer Gutachtenerstellung und Etikettierung des Kindes und zur Gewährung von Unterstützungsmaßnahmen führt. Mit etwas Glück und hohem Aufwand lässt sich das Lernproblem wieder auf ein erträgliches Maß reduzieren, aber unter Umständen ist viel Zeit verstrichen und Lernrückstände können nicht mehr aufgeholt werden. Psychologisch-pädagogische Maßnahmen werden meist erst dann gewährt, wenn Kinder gescheitert sind. Man wartet also bei zumindest zum Teil vermeidbaren Problemen, bis die Kinder scheitern, um dann spezifisch tätig zu werden. Wünschenswert wäre stattdessen, wenn die sich entwickelnde Problemlage frühzeitig erkannt und präventiv eingeschritten würde, da den Kindern problematische Entwicklungen und Misserfolgserlebnisse erspart bleiben und eine Etikettierung sich damit erübrigen würde. Das Scheitern von Kindern ist also in gewisser Weise systemimmanent. Eine wichtige Aufgabe für Lehrkräfte besteht demnach darin, aufmerksam zu sein, Probleme nicht zu ignorieren, die Leistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler zu vergleichen, Auffälligkeiten anzugehen und im Kollegium und mit den Eltern zu kommunizieren.
2.3 Ursachen von Lernproblemen und Lernbehinderungen
Die Ursachen von Lernstörungen sind vielfältig und sie können bei unterschiedlicher Zusammensetzung letztlich zu ähnlichen Problemen führen. Es gibt viele soziale, individuelle und institutionelle Faktoren, die zudem ungünstig wechselwirken können (vgl. Gold, 2018, Kap. 3). Bezogen auf spezifische Lernstörungen werden die Ursachen in den folgenden Kapiteln genauer erörtert. Bei übergreifenden Lernbehinderungen finden sich deutliche Unterschiede zu normal begabten Kindern auf kognitiver und affektiv-motivationaler Ebene sowie hinsichtlich sozialer Risiken:
• Lernregulation: Menschen mit Lernbehinderungen weisen deutliche Probleme bei der Steuerung ihrer Lernprozesse und der Kontrolle der Lernergebnisse auf. Das Lernen ist ungünstig organisiert oder es werden wenig effektive oder keine Strategien eingesetzt (vgl. Reid et al., 2013). Selbst bei intensivem Lernen bleibt hierdurch der gewünschte Lernerfolg aus.
• Lernmotivation, Selbstkonzept und Angst: Lernschwierigkeiten haben oft negative Auswirkungen auf Lernmotivation, Volition und Lernfreude. Letztlich bevorzugen Menschen jene Tätigkeiten, die ihnen leichtfallen bzw. wo sie das Gefühl von Kompetenz erleben können. Die Vermeidung subjektiv schwieriger Tätigkeiten verhindert den Erwerb der betreffenden Fähigkeiten und das kann wiederum zukünftige Lernergebnisse beeinträchtigen (Ning & Downing, 2010). Die Betroffenen erreichen nicht die akademischen Leistungen, die bei ihren kognitiven Fähigkeiten erwartet werden und die sie eigentlich erreichen könnten – ein Phänomen, das als Underachievement bezeichnet wird (Preckel et al., 2006). Die Beziehung zwischen der kognitiven, motivationalen und affektiven Seite des Lernens ist wechselseitig und kann zu einer Abwärtsspirale aus akademischem Versagen, Motivationsproblemen, reduziertem Selbstkonzept, Angst und Frustration führen.
• Kausalattribution: Personen mit häufigen Misserfolgserlebnissen neigen dazu, das Leistungsversagen internal und stabil zu attribuieren. Das bedeutet, sie suchen den Grund in fehlender Begabung und erwarten, auch in Zukunft zu scheitern (Gold, 2018, S. 42). In der Folge sinkt die Leistungsbereitschaft und Leistungssituationen werden vermieden. Während günstige Attributionsmuster günstigere Leistungsentwicklungen voraussagen, lässt sich der beschriebene Teufelskreislauf jedoch nicht durchgängig nachweisen (Kistner et al., 1988).
• Externalisierende Verhaltensstörungen: Frühe Verhaltensprobleme, insbesondere oppositionelles Verhalten, spielen bei der Entstehung von Lernschwierigkeiten eine bedeutsame Rolle und sie sind eine Determinante späteren Underachievements (Timmermans et al., 2009).
• Kumulierung von Vorwissensdefiziten: Das Vorwissen gehört zu den stärksten Prädiktoren schulischen Erfolgs (exemplarisch: SCHOLASTIK-Studie; Schneider & Bullock, 2009). Menschen mit hoher Expertise verfügen nicht nur quantitativ über mehr Wissen, sondern sie lernen anders, da sie schneller Zusammenhänge erkennen, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden und Wissen organisieren können. Die Anhäufung von Vorwissensdefiziten über die Zeit bedingt nicht nur die Notwendigkeit, mit hohem Aufwand die Lücken zu schließen, sondern sie reduziert gleichzeitig auch den aktuellen Lernerfolg und Wissenserwerb. Dieses Phänomen wird in Anlehnung an das Matthäus-Evangelium (Kap. 25,29: »Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.«) als Matthäus-Effekt bezeichnet.
• Funktionelle Kapazität des Arbeitsgedächtnisses und Aufmerksamkeitsprozesse: Das Arbeitsgedächtnis umfasst alle Prozesse der kurzfristigen Speicherung und Transformation von Informationen. Neben der zentralen Exekutive, die für die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit und der Unterdrückung von störenden Informationen verantwortlich ist, gibt es Gedächtnissysteme zur Speicherung serieller und bildhaft-räumlicher Informationen. Kinder und Erwachsene mit Lernproblemen zeigen häufig eine reduzierte Kapazität der Speichersysteme und gleichzeitig auch Probleme beim Unterdrücken irrelevanter Informationen (Swanson, 2016; Swanson & Alloway, 2012). Kinder mit spezifischen Lese- und Rechtschreibproblemen haben im Durchschnitt kognitive Profile mit einer deutlich reduzierten phonologischen Gedächtnisspanne. Arithmetische Probleme scheinen dagegen häufiger mit Beeinträchtigungen des visuellen Arbeitsgedächtnisses einherzugehen (Maehler & Schuchardt, 2016).
• Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit: Die Fähigkeit zur schnellen Verarbeitung eingehender Informationen steht mit Aufmerksamkeitsprozessen in Verbindung und sie kann einen Flaschenhals für Lernprozesse darstellen (Trainin & Swanson, 2005). Als biologisches Korrelat einer herabgesetzten Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit wird eine fehlende funktionale Spezialisierung des Gehirns oder auch eine geringere Myelinisierung diskutiert (Miller, 1994), jedoch ist bei solchen biologischen bzw. neurologischen Erklärungsmodellen von Lernprozessen häufig Vorsicht geboten, wie der folgende Fall zeigt.

Feuillet et al. (2007) berichten vom Fall eines Postangestellten der mittleren Beamtenlaufbahn, der aufgrund einer zweiwöchigen Schwäche im linken Bein eine Klinik aufsucht. Als Kind war bei ihm ein Hydrozephalus behandelt worden. Landläufig wird dieser als »Wasserkopf« bezeichnet und er entsteht bei Kindern als Folge fehlenden Druckausgleichs von Hirnflüssigkeit. Das Problem wurde mittels eines sog. Shunts korrigiert, also dem Einsetzen eines Schlauchsystems, das Hirnflüssigkeit ableitet. Davon abgesehen verlief seine Entwicklung normal. Er war verheiratet und Vater zweier Kinder. Eine neuropsychologische Untersuchung ergab einen unterdurchschnittlichen IQ, mit einer relativen Stärke in verbalen Fähigkeiten. Eine MRI-Untersuchung zeigte extrem vergrößerte Ventrikel seines Gehirns (normal vorkommende, flüssigkeitsgefüllte Leerräume), sodass das Gehirn selbst lediglich aus einer sehr dünnen Schicht grauer Zellen bestand. Die geschätzte Gesamtmasse des Gehirns betrug lediglich 25 % bis 50 % der eines erwachsenen Mannes. Diese dünne Schicht reichte offensichtlich aus, um ein relativ normales, unauffälliges Leben zu führen. Nach einer erneuten Shunt-Operation zur Reduktion des Hirndrucks verschwand auch das Taubheitsgefühl im linken Bein. Der Fall zeigt, dass selbst großflächige Schädigungen des Gehirns unter Umständen gut kompensierbar sind. Winzige Verletzungen an kritischen Stellen können dagegen zu massiven Behinderungen oder zum Tod führen. Einfache neurologische Erklärungen greifen bei der Betrachtung komplexer Lernprozesse meist zu kurz.
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