Vielleicht erleben wir gerade eine Annäherung dieser beiden Traditionen und ihrer Perspektiven. Diese Annäherung könnte ihre Ursache in den jüngsten Veränderungen der Medientechnologien haben, die Implikationen für beide Traditionen haben: Da digitale Medien verschiedene Domänen der Gesellschaft durchdringen und eng mit deren Praktiken verschränkt sind, ist es heute schwierig anzunehmen, dass Medien die ›semi-unabhängige Institution‹ bleiben, als die sie in der institutionalistischen Tradition betrachtet werden. Digitale Medien sind mit den Praktiken, die Institutionen konstituieren, so verschränkt, dass es kaum möglich ist, Medienlogiken und institutionelle Logiken einander gegenüberzustellen. Gleichzeitig müssen wir aber bedenken, dass die Untersuchung digitaler Medien nicht einfach bedeutet, dass wir Alltagspraktiken und die kommunikative Konstruktion der Gesellschaft nur auf der Ebene der Mediennutzung erforschen können, sondern wir sollten auch die Rolle berücksichtigen, die große Konzerne wie Alphabet, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft und die von ihnen (und anderen) aufgebauten Infrastrukturen spielen. An dieser Stelle müssen die ursprünglichen sozial-konstruktivistischen Argumente erweitert werden, indem unter anderem stärker die Rolle der Organisation beim ›Zustandekommen‹ der tiefgreifenden Mediatisierung berücksichtigt wird.
Generell wäre es irreführend, den Begriff der Mediatisierung in einer oder beiden Traditionen mit einer geschlossenen Theorie des Medienwandels gleichzusetzen. An dieser Stelle ist es hilfreich, sich noch einmal das Argument ins Gedächtnis zu rufen, dass Mediatisierung ein ›sensibilisierender Begriff‹ ist, der unseren Blick für einen wichtigen Aspekt des aktuellen gesellschaftlichen Wandels schärft. Mit dieser sensibilisierenden Eigenschaft kann der Begriff für sich allein keine eigenständige Theorie bilden, sondern eine andere Sichtweise ist hilfreicher: Mediatisierung ist ein sensibilisierender Begriff, um den sich verschiedene Wissenschaftler:innen versammelt haben, die an einer empirisch fundierten Untersuchung der Bedeutung von Medien und Kommunikation für den Wandel von Kultur und Gesellschaft interessiert sind. Gemeinsam ist diesen Wissenschaftler:innen, dass sie nach Ansätzen suchen, die über einfache Wirkungsmodelle hinausgehen, und versuchen, den aktuellen Wandel in einer längerfristigen, historischen Perspektive sowie medienübergreifend zu beschreiben. 9Aus dieser Sicht verweist der Begriff ›Mediatisierung‹ auf einen offenen, kontinuierlichen Diskurs der Theoretisierung von sozialem und kulturellem Wandel in Bezug auf Medien und Kommunikation.
Innerhalb dieses Diskurses nimmt dieses Buch eine Position ein, die Nick Couldry und ich an anderer Stelle als »materialistische Phänomenologie« (COULDRY/HEPP 2017: 5-8) beschrieben haben. Wie Raymond Williams (1990) mit seiner Idee des ›kulturellen Materialismus‹, betonen wir, dass es für jede Analyse von Medien und Kommunikation grundlegend ist, sowohl das Materielle als auch das Symbolische zu berücksichtigen. In Zeiten tiefgreifender Mediatisierung ist die Berücksichtigung beider wahrscheinlich noch dringlicher, als dies bereits beim Fernsehen der Fall war, auf das sich Williams in seinem Werk bezog: Die ›Materialität‹ der heutigen Medien betrifft nicht nur die verschiedenen Endgeräte, Kabelnetze und Satelliten. Wie ich bereits oben betont habe, ist es, da die heutigen Medien weitgehend softwarebasiert sind, wichtig zu bedenken, dass komplexe Aufgaben an Algorithmen ›ausgelagert‹ werden können und in einer zunehmenden Zahl von Fällen auch werden. Es ist daher notwendig, viel grundlegender über die Materialität von Medien nachzudenken und die Frage zu stellen, welche Art von Handlungsfähigkeit – von Agency, wie es in der wissenschaftlichen Diskussion heißt – digitale Medien wann und wie entwickeln. Dies betrifft insbesondere Formen von automatisierter Kommunikation, wenn also Social Bots, Artificial Companions und andere ›eigenständig‹ kommunizierende Medien Teil menschlicher Kommunikationsbeziehungen werden. Eine materialistische Phänomenologie untersucht die ›Dinghaftigkeit‹ von Medientechnologien und -infrastrukturen anhand der gegenwärtigen Kommunikation.
Trotz der wichtigen Rolle, die Daten und Algorithmen spielen, sind aber Fragen der menschlichen Bedeutung und Sinngebung immer noch ein zentrales Thema für jede Analyse der sozialen Konstruktion. Finanzprodukte, die einen beträchtlichen Teil der an den heutigen globalisierten Börsen gehandelten Produkte ausmachen, basieren beispielsweise oft vollständig auf automatisiert verarbeiteten Daten und sind ohne eine visuelle, computergestützte Repräsentation derselben nicht greifbar. 10Aber die verarbeiteten Daten erhalten erst durch die menschliche Zuschreibung von Bedeutung eine Wertigkeit als Finanzprodukt. Aus diesem Grund ist es wichtig, das Symbolische nicht aus den Augen zu verlieren: die soziale Konstruktion der Wirklichkeit bleibt auch in Zeiten tiefgreifender Mediatisierung ein Prozess der Zuschreibung von Bedeutung. Der Ansatz der materialistischen Phänomenologie zielt darauf ab zu verstehen, dass die soziale Welt, so komplex und undurchsichtig sie auch erscheinen mag, der Interpretation und des Verständnisses durch menschliche Akteure bedarf. In der Tat ist sie eine Struktur, die zum Teil erst durch diese Interpretationen und Verstehensweisen aufgebaut wird.
Ein zentrales Anliegen der materialistischen Phänomenologie sind deswegen die jeweils beteiligten Akteur:innen, seien es Individuen oder überindividuelle Akteure wie Unternehmen und Kollektive. 11Um diesem Anliegen Rechnung zu tragen, wird in diesem Buch die Mediatisierung aus einer Akteursperspektive untersucht: Mediatisierung ist kein Prozess, der einfach ›passiert‹. Obwohl dieser Prozess eine Vielzahl von Technologien und einige der komplexesten Infrastrukturen der Geschichte umfasst, bleibt er einer, der von Menschen gemacht ist, die ihm Bedeutung verleihen: individuelle Akteur:innen als einzelne Menschen, korporative Akteure als Organisationen, Unternehmen und staatliche Behörden sowie kollektive Akteure als Gemeinschaften oder soziale Bewegungen. Eine Akteursperspektive auf tiefgreifende Mediatisierung einzunehmen bedeutet, zu versuchen, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie der Prozess der Mediatisierung in der Überschneidung der Interessen und Praktiken einer großen Zahl sehr unterschiedlicher Akteure stattfindet.
Die heutige Mediatisierung ist in ihrem tiefgreifenden Charakter durch das Ausmaß gekennzeichnet, mit dem die Praktiken dieser verschiedenen Akteur:innen mit digitalen Medien und deren Infrastrukturen verschränkt sind. 12Da Medien die verschiedenen Domänen der Gesellschaft durchdringen, sind sie Teil der Praktiken geworden, durch die diese sozialen Domänen konstruiert werden. Praktiken, die in der Vergangenheit vielleicht nicht als medienbezogen betrachtet wurden, werden zu Medienpraktiken. 13Im Büro und im Labor, in der Schule und an der Universität, mit der Familie oder unter Freund:innen: Unsere aktuellen Praktiken sind dadurch gekennzeichnet, dass wir sie auch mit und durch Medien realisieren. Damit wird die besondere Situation der tiefgreifenden Mediatisierung deutlich, die die digitale Gesellschaft entstehen lässt, nämlich dass Praktiken des physischen Handelns – Handarbeit, Putzen, Autofahren, Kochen und so weiter – zunehmend eng mit Praktiken der Kommunikation verwoben sind und dass digitale Medien dabei eine zunehmende Rolle spielen. Wenn wir Dinge gemeinsam tun, koordinieren wir unsere Handlungen und orientieren unser Wissen durch Kommunikation, und wir projizieren unsere Ziele durch kommunikative Mittel (REICHERTZ 2009: 118-220). Diese Kommunikation ist heute eine Kommunikation, die auch durch digitale Medien vermittelt geschieht. Mit der Verschränkung allgemeiner sozialer Praktiken mit digitalen Medien verschwimmt die Trennung zwischen kommunikativem Handeln und physischem Handeln weiter. Ein gutes Beispiel dafür ist die automatisierte Selbstvermessung von Laufen, Radfahren und Schlafen mithilfe von Smartwatches: Es geht um körperliche Tätigkeiten, die für uns eine ganz neue Bedeutung bekommen können, wenn wir sie mit Medien verschränken – nicht nur Medien des Sammelns von Daten über diese Tätigkeiten, sondern auch Medien wie Facebook und Instagram, mittels derer wir anderen fortlaufend kommunizieren, was wir gerade getan haben. Die analytisch interessantere Frage ist damit die, wie sich physisches und kommunikatives Handeln aufeinander beziehen – wie physische Praktiken auch zu medialen Praktiken werden.
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