Der doppelte Eingang aus verspiegeltem Glas befindet sich am Anfang einer kleinen Seitenstraße, nur ein paar Häuserblocks von Christus dem Erlöser entfernt. Eine abgelegene Kreuzung mit wenig Verkehr. Simone Pace rückt die blaue Baseballmütze auf seinem Kopf zurecht, schiebt die gefakte Brille auf der Nase zurück, ein Tick von ihm, und überquert die Straße exakt gegenüber der Tür, die sein Spiegelbild immer größer zurückwirft. Das Haus sieht von außen aus wie eines der vielen eleganten Bed & Breakfast der italienischen Hauptstadt, wo Touristen und die Wasserträger der Politik übernachten. Innen ist es sehr viel mehr. Sein Luxus und seine Ruhe sind heute nur mit der VIP-Lounge am Flughafen von Dubai vergleichbar, die jenen Passagieren vorbehalten ist, für die Geld keine Rolle spielt. Auf dem Klingelschild aus Messing funkelt die gravierte Schrift in arabischen und lateinischen Buchstaben: Bait as-Salaam – Casa della pace. Haus des Friedens.
Simone klingelt und senkt den Blick auf seine Schuhe. Er weiß, dass die Videokamera läuft, sobald er den Finger auf den Knopf legt. Das winzige Objektiv befindet sich mit Sicherheit hinter den verspiegelten Eingangstüren, die sich gleich öffnen werden, eine nach der anderen. Aber niemand öffnet, niemand meldet sich. Er klingelt ein zweites Mal. Und erst jetzt nehmen seine Augen etwas wahr, was ihnen bisher entgangen ist. Die Glastür ist mit einer Staubschicht bedeckt und von unten bis oben hoffnungslos schmutzig. Unten links hat jemand seine Notdurft verrichtet, und das eklige Rinnsal auf der Türschwelle aus schwarzem Marmor verläuft bis zum Asphalt des Gehsteigs. Reste von Altpapier und aufgeweichtem Laub füllen den schmalen Spalt zwischen Schiebetür und Boden. Laub. Folglich wurde die Tür schon seit Wochen nicht mehr geöffnet. Das sagt ihm seine lange Erfahrung als Polizist sofort. Bei genauerem Hinsehen weist sogar das Messingschild dunkle Oxidationsflecken auf, es wurde also schon lange nicht mehr gereinigt. Er läutet ein drittes Mal. Und endlich merkt er, dass die Klingel, die ein aufmerksames Ohr auch hier draußen hören müsste, stumm bleibt. Der Strom ist abgeschaltet. Das Haus des Friedens existiert nicht mehr. Er bekommt ein flaues Gefühl im Magen. Er ist nicht enttäuscht, sondern erschrocken.
Simone Pace dreht sich auf dem Absatz um und geht. Die Brille auf der Nase, den Blick immer noch auf seine Schuhe gesenkt. Und jetzt ist da ein neuer Gedanke, der erste Schritt auf einem Weg, der bergauf führt. Er war sicher, sie hier anzutreffen. Nur sie könnte seine wahre Identität enthüllen und das Phantom wieder zum Leben erwecken. Soweit er weiß, ist sie wütend auf ihn. Bestimmt wegen dieser Verhaftung in Mali. Eine Frau, die in einer solchen Gegend der Welt wegen Terrorismus eingesperrt ist, hat, wenn sie bei ihrer Befreiung nicht stirbt, alles überlebt. Wirklich alles. Deshalb könnte sie von maßloser Wut erfüllt sein. Und deshalb könnte sie allein das Schweigen brechen und Simone Pace, wenn er tot und begraben ist, ins Leben zurückbringen. Er muss sie sehen. Er muss mit ihr sprechen. Er muss wissen, was sie vorhat. Seine ganze Angst spiegelt sich in der einzigen Frage, die seine Gedanken beherrscht: Wie finde ich Latifa?
Die Statue von Christus dem Erlöser immer noch im Blick, macht sich Simone auf den Weg zum Immobilienbüro des Viertels. Vor ein paar Tagen hat er im Internet die Anzeige für eine Zweizimmerwohnung im obersten Stock eines Altbaus gesehen. Zimmer, Wohnküche, Bad, Balkon und Fenster mit Blick auf den Sonnenuntergang und über die Dächer Roms. Er muss den Mietvertrag unterschreiben und die Kaution bezahlen. Fehlt nur noch die Anmeldung für Wasser, Gas und Strom, und er kann sein römisches Leben beginnen. Vorbei die Zeit, als er es sich leisten konnte, wochenlang zwischen den Edelholzmöbeln seines Lieblingshotels zu logieren.
Es bleibt sogar noch Zeit für einen langen Spaziergang in der frühlingshaften Sonne dieses ungewöhnlich warmen Novembertags. Wie ein Tourist, bis zum Forum Romanum. Dann das Warten auf den Sonnenuntergang in den Ruinen des antiken Rom. Und ein Abendessen im Restaurant der Schauspieler, im La Matriciana gleich gegenüber der Oper. Es ist berühmt für seine Pasta all’amatriciana , für seine Mezze maniche mit Muscheln und Pecorino und für viele andere Gerichte. In den Tiefen seines narzisstischen Bewusstseins fühlt sich Simone Pace wie ein großer Schauspieler. Nur dass die Filme, deren Hauptdarsteller er ist, immer live gedreht werden: ohne Double und ohne die Möglichkeit, eine Szene zu wiederholen. Wie im Theater.
Um Mitternacht liegt er schon in seinem Doppelbett und denkt nach, eingehüllt in die Duftessenzen von Zimmer Nummer 922. Das Licht gelöscht. Vom offenen Fenster das Rauschen der Stadt. Die Hände im Nacken verschränkt und noch einmal die Gewissheit, die Welt in der Hand zu haben. Er ist lange nicht mehr in Rom gewesen, und Rom fehlt ihm immer. Und so schläft er, noch angekleidet, ein.
Der Tag kündigt sich mit der Kühle der Morgendämmerung an, die vom offenen Fenster hereindringt. Simone Pace steht auf, um es zu schließen. Doch dann verharrt er am Fenster und betrachtet die beiden großen Kuppeln der Basilika Santa Maria Maggiore, wo Gian Lorenzo Bernini, der Bildhauer der Päpste, begraben liegt: zwei Kuppeln nebeneinander wie ein praller junger Busen, eine Hommage an die weibliche Fruchtbarkeit. Er wendet sich etwas nach rechts und nimmt zwischen den im ersten Tageslicht rosa schimmernden Ziegeln, den ausgedehnten, noch dunklen Terrassen und den schirmförmigen Kronen der Pinien das obere Gesims des Kolosseums in den Blick. Gleich dahinter, weit hinten in der Ebene, entdeckt er die Konturen des Colosseo quadrato , des E.U.R.-Palasts, die schönste und eleganteste architektonische Parodie aus der Zeit des italienischen Futurismus. Simone Pace findet das Bauwerk sogar eleganter als das Original. Ein Stück weiter rechts zeichnen sich am heller werdenden Himmel die Umrisse der Zypressen ab, hinter denen sich der Palatin verbirgt, die Residenz der römischen Kaiser. Und noch weiter rechts verschönert die Morgenröte eine chaotische Landschaft aus Dächern, Schornsteinen, Klimaanlagen, Antennen und Fernsehkabeln, die kreuz und quer aufgehängt sind. Über diesem Wirrwarr, höher als alles andere, bläht sich auf der Fahnenstange des Quirinalspalastes, dem Sitz des Präsidenten der Republik, die italienische Fahne im Wind. Gleich dahinter, isoliert und noch größer, scheint sie von der riesigen, unbewegten Halbkugel der Kuppel von Sankt Peter beobachtet zu werden. Erstaunt, als wäre es das erste Mal, bemerkt Simone, dass man von seinem Standort aus sogar den Dreiecksgiebel der Basilika sieht. Und daneben die Fassade mit dem Fenster der Papstwohnung. Von Zimmer Nummer 922 erfasst man mit einem einzigen Blick mehr als zweitausend Jahre Geschichte.
Tief einatmend, genießt er die Schönheit dieser Szenerie. Plötzlich ist ihm kalt. Er erinnert sich, dass er das Fenster schließen wollte, dann setzt er sich im perfekten Schneidersitz aufs Bett. So verharrt er fast eine Stunde. Er nimmt eine heiße Dusche. Dann geht er hoch zur Terrasse des Hotels. Frühstück im Freien mit einem Panoramablick über die Stadt. Fast wie im Frühling. Frisches Obst, Ziegenkäse, Brot, Honig. Und Espresso, sehr schwarz, sehr stark.
Um neun Uhr erstrahlt die Fassade von San Pietro in Vincoli in der Sonne. Das Portal ist bereits geöffnet und gibt das Halbdunkel des weiträumigen Kircheninnern frei. Erst nach vielen Schritten haben sich die Augen an den Dämmer gewöhnt. Wenige Bänke, wie am Tag zuvor. Ich sitze in der letzten gegenüber dem Altar. Ich drehe mich um. Simone Pace lässt seine Augen umherschweifen, eine letzte Kontrolle. Dann nimmt er neben mir Platz. Vor den Ketten des heiligen Petrus, Moses’ gestrengem Blick ausgesetzt.
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