»Da bin ich«, sage ich zu ihm. Und drehe mich um, um mir die Skulptur genauer anzusehen. Ich war schon öfter hier. Aber der visuellen Faszination dieser Marmorstatue, modelliert, als wäre sie aus weichem Ton, den Gewandfalten, der Anatomie der Muskeln, der Bewegung des Körpers und der Strenge des Antlitzes kann man sich nicht entziehen.
»Warum sprichst du nicht?«, sagt Simone Pace und wiederholt die Frage, die der Überlieferung zufolge Michelangelo stellte, als er sein Meisterwerk vollendet hatte.
»Unglaublich, wie es ihm gelungen ist, Moses’ Gesicht zu drehen.«
»Das wusste ich nicht. Drehen in welchem Sinn?«, fragt Simone Pace.
»Das Gesicht war auf einer Linie mit dem Bart. Wie Sie sehen, ist der Bart jetzt im Vergleich zum Gesicht nach rechts gewendet.«
»Während vorher …«
»Vorher hat Moses geradeaus geblickt. Fünfundzwanzig Jahre lang nahm er eine statische Position ein. Der Moses war die erste von vierzig Statuen, die das Mausoleum für Papst Julius II. schmücken sollten. Als dann das Projekt aus Kostengründen aufgegeben wurde, wies um 1540 ein Freund Michelangelo darauf hin, dass ein Moses in Bewegung realistischer gewesen wäre. Doch um den Kopf zu drehen, musste auch der Körper eine Drehung vollführen. Natürlich mit Hammer und Skalpell. Wenn Sie sich Moses’ linkes Knie anschauen, werden Sie feststellen, dass es dünner ist als das rechte. Um den linken Fuß nach hinten zu bringen, musste der Künstler Marmor wegnehmen. Es ist eine Skulptur, keine Marionette. So etwas konnte nur der große Michelangelo zustande bringen.«
»Ich habe mich immer gefragt, warum Moses nicht zum Altar blickt«, sagt er.
»Das hat sich Sigmund Freud auch gefragt.« Ich wende mich Simone Pace zu und blicke zum ersten Mal direkt in seine Augen hinter der schmalen Brille. Mir fällt auf, dass die Gläser die Pupillen seiner grünen Augen nicht vergrößern. »Moses zürnt seinem Volk«, fahre ich fort, »weil es in seiner Abwesenheit angefangen hat, das Goldene Kalb anzubeten. Er ist im Begriff aufzustehen und zu gehen, aber er lässt sich Zeit. Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand spielen ungeduldig mit den Bartlocken, sodass ihm die Gesetzestafeln zu entgleiten drohen. Er zögert, ist unschlüssig, was er machen soll. Er liegt im Widerstreit mit sich selbst. Noch hat er sich nicht entschieden, ob er bleiben oder gehen soll. Das ist allerdings nur die offizielle Lesart des Werks. Diejenige, die verhindert hat, dass Michelangelo gehängt wurde. Ich dagegen glaube, dass der Moses die Ansichten Michelangelos über die römische Kirche zum Ausdruck bringt.«
Simone Pace betrachtet schweigend das große Marmorantlitz.
»Sehen Sie sich die Statue von Papst Julius II. hier oben an, der die Skulptur in Auftrag gegeben hat. Er liegt ausgestreckt da und blickt fröhlich zu uns herunter. Finden Sie, das ist eine würdevolle Pose für einen Papst? Fast scheint es, als würde er vor sich hin pfeifen. Er sieht aus wie ein Gigolo nach einer Zecherei. Vielleicht entsprach dies Michelangelos Bild von der Kirche. Denken Sie nur an den Ablasshandel, mit dessen Geldern Julius II. die Bauarbeiten für Sankt Peter finanziert hat.«
»Ich wusste nicht, dass Julius II. etwas mit dem Bau der Peterskirche zu tun hat«, gibt Simone Pace zu.
»Verstehen Sie, warum Moses nicht zum Altar blickt und der Papst über ihm leicht angetrunken aussieht? Michelangelo hatte Mut, denn die Kirche duldete damals keine Kritik. Diese Statue zeigt einen rebellischen Geist. Michelangelos Darstellung ist satirisch. Jedenfalls möchte ich es so sehen. Aber kommen wir zur Sache. Warum hatten Sie um dieses Treffen gebeten?«
»Ich möchte mit Ihnen über die Zehn Gebote sprechen«, verrät Simone Pace.
Ich verschränke die Arme und sehe ihn schief an, ein Blick, der meine Enttäuschung ausdrücken soll. »Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen kann. Ich beschäftige mich nicht mit Religion.«
»Bis auf das vierte habe ich alle Gebote übertreten«, fährt Simone Pace fort. Ich seufze. Dann habe ich es also mit einem Mythomanen zu tun, der mir nur meine Zeit stiehlt.
»Nun gut, Sie wollen mir sagen, dass Sie Vater und Mutter geehrt haben, aber am Sonntag nicht zur Messe gegangen sind. Dann brauchen Sie wahrscheinlich einen Priester, keinen Journalisten. Den Feiertag nicht zu heiligen oder unkeusche Handlungen zu begehen ist heute nicht mehr von öffentlichem Interesse. Zum Glück sind wir frei.«
Der ironische Unterton meiner Stimme ist Simone Pace gewiss nicht entgangen. Vielleicht hat er mit dieser Reaktion gerechnet. Die Mauer muss übersprungen, die Grenze niedergerissen, die Waffe geladen werden, wenn er, wie ich am Ende verstehen werde, Simone Pace tatsächlich eliminieren will. Jetzt oder nie. Aber es fällt ihm leichter als gedacht. Meine Ironie stört ihn überhaupt nicht. Die Worte kommen wie von selbst aus seinem Mund: »Ich meine das achte Gebot: Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten. Ich meine das siebte: Du sollst nicht stehlen. Vor allem aber meine ich das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten«, flüstert er.
Ich drehe mich kurz um und vergewissere mich, dass die Gesetzestafeln noch da sind, zwischen Moses’ rechtem Arm und seiner rechten Hüfte. Dass er sie nicht hat fallen lassen. Der Blick des Propheten scheint sich auf uns zu senken. Eine Gruppe amerikanischer Touristen nähert sich.
»Setzen wir uns in eine der Bänke«, schlägt Simone Pace vor. »Da wird uns niemand hören. Dann erkläre ich Ihnen, warum ich mit Ihnen sprechen wollte.«
Wir setzen uns in eine leere Bank mitten im Hauptschiff. Von den drei großen Seitenfenstern über der linken Säulenreihe flutet das Novemberlicht herein. Das Strahlenbündel fällt im 45-Grad-Winkel vom Himmel direkt auf die Marmorskulpturen der Basilika. Nur von dieser Seite aus. An der rechten Wand gibt es kein einziges Fenster.
»Signor Pace, bevor Sie anfangen zu sprechen, muss ich Ihnen zwei Fragen stellen. Die erste: Warum haben Sie sich ausgerechnet an mich gewandt?«
»Das kann ich Ihnen sofort erklären«, sagt er, ohne zu zögern. »Sie begegnen mir zum ersten Mal, aber ich kenne Sie gut. Ich habe viele Ihrer Enthüllungen als verdeckt ermittelnder Journalist verfolgt. Besonders, als Sie sich als Migrant ausgegeben, die Sahara durchquert und sich in Lampedusa aus dem Meer haben fischen lassen. Ich kenne auch Ihre Bücher. Es waren fast militärische Operationen, die Sie da unternommen haben. Sie sind große Risiken eingegangen, und ich glaube nicht, dass Ihr Arbeitsvertrag das von Ihnen verlangt. Ich erkenne daraus Ihre Entschlossenheit, die Realität von innen zu erleben, Ihre Leidenschaft, und das Adrenalin spielt sicher auch …«
»Ich habe es nie wegen des Adrenalin-Kicks gemacht«, unterbreche ich ihn. »Adrenalin versuche ich zu meiden. Es lässt einen den Bezug zur Realität verlieren und ist gesundheitsschädlich. Wie Nikotin. In manchen Situationen führt Adrenalin zum Tod.«
»Ich bin jedenfalls überzeugt, dass ich Ihnen vertrauen kann, und ich denke, wir haben dieselbe Arbeitsmethode«, erläutert er.
»Dann sind Sie also Journalist?«
»Nein, haben Sie nur Geduld, ich werde Ihnen alles erzählen.« Simone Pace spricht immer noch gedämpft, und er blickt dabei geradeaus zum Altar. Inmitten all der Touristen sehen wir aus wie zwei Gläubige im Gebet. »Und Ihre zweite Frage?«, fragt er jetzt.
»Als Sie vorhin vom fünften Gebot sprachen, meinten Sie damit, dass Sie auch getötet haben?«
Simone Pace schüttelt den Kopf. »Nein, die Antwort ist Nein. Aber ich habe es aus nächster Nähe miterlebt. Ich war beteiligt und bin Zeuge von Operationen geworden, die mit einem Mord endeten. Operationen, gegen die ich nichts tun konnte. Besonders von einer haben Sie bestimmt gehört.«
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