Ich sehe ihn weiter schweigend an.
»Erinnern Sie sich an den Konstrukteur von Saddam Husseins Superkanone?«
»Gerald Bull? Ja, sicher. Er wurde in Brüssel ermordet. Man sprach von einer verdeckten Operation des Mossad.«
»Die Amerikaner waren auch dabei«, verrät Simone Pace und deutet ein Lächeln an. Er blickt weiter zum Altar. Der Einzige, der uns anzuschauen und uns zuzuhören scheint, ist der große Moses. Der bärtige Prophet beobachtet uns von der Seite, verborgen zwischen der neunten und der zehnten Säule, der vorletzten und letzten rechts vor der Statue.
»Und Sie, waren Sie aufseiten der Amerikaner oder der Israelis?« Ich werfe die Frage in den Ring und bin mir meines Wagnisses bewusst. Aber ich habe Gespräche um den heißen Brei herum stets gehasst. Und ich weiß immer noch nicht, wer dieser jugendlich wirkende Mittfünfziger wirklich ist, der eine geradezu manische Diskretion an den Tag gelegt hat, um sich mit mir zu treffen.
Simone Pace wendet sich ruckartig nach links, mir zu. Er sieht mich ein paar Sekunden an. »Aufseiten der Amerikaner«, sagt er dann und sucht meine Augen.
»CIA?«
»Ja«, sagt er und unterstreicht sein Geständnis mit einem Kopfnicken.
»Dann sind Sie also CIA-Agent?«
»Mehr als das. Operativer Agent.«
»Was macht das für einen Unterschied?«
»Einen großen. Der operative Agent agiert an vorderster Front. Er führt die Operationen vor Ort durch. Und von diesen Operationen möchte ich Ihnen erzählen.«
»Aber Sie sprechen perfekt Italienisch«, sage ich. »Sind Sie italienischer oder amerikanischer Staatsbürger?«
»Man muss nicht unbedingt Amerikaner sein, um mit der CIA zusammenzuarbeiten. Aber ich könnte es genauso gut sein.«
Ich sehe ihn schweigend an. Ich versuche herauszufinden, ob ich es mit einem der vielen Mythomanen zu tun habe, die sich einbilden, sie seien die Reinkarnation Jesu, Napoleons Erben oder Doppelgänger des Lawrence von Arabien. Simone Paces hellgrüne Augen sind reglos hinter seinen Brillengläsern, durch die sie nicht vergrößert werden. »Und warum sollte sich ein CIA-Agent an einen italienischen Reporter wenden statt an einen Starjournalisten der New York Times ?«, frage ich unvermittelt.
Simone Paces Hände liegen ruhig auf seinen Oberschenkeln. Er wendet, nur ganz kurz, den Blick zu dem bärtigen Moses und dann wieder zu mir. »Ich kenne keinen Starjournalisten der New York Times «, erwidert er. »Und ich habe Ihnen schon gesagt, warum ich mich an Sie gewandt habe.«
»Dann frage ich Sie, warum Sie sich entschlossen haben, ausgerechnet jetzt zu reden?«
Wahrscheinlich hat Simone Pace mit all diesem Misstrauen gerechnet. Er antwortet aufrichtig, jedenfalls kommt es mir so vor. »Ich habe mich entschieden, meine Wahrheit zu erzählen, weil ich Italien für immer verlasse. Ich würde es bedauern, all das, was ich und Sie erlebt haben, mit fortzunehmen, ohne dass es jemand erfährt.«
»Ich und Sie?«
»Was ich getan habe, habt ihr erlitten. Ihr Bürger, meine ich. Wir haben dieselbe Geschichte erlebt«, fügt Simone Pace hinzu, »wenn auch aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Außerdem bin ich bereits über fünfzig, und in diesem Alter muss man mit seiner Vergangenheit abschließen und an seine Zukunft denken.«
»Und Sie haben keine Angst, dass ich Sie verraten könnte? Ich könnte Ihren Namen veröffentlichen und Ihnen eine Menge Ärger machen.«
Zum ersten Mal zeigt er ein kaltes Lächeln. Er seufzt. »Wenn das Ihre Absicht ist«, sagt er, »dann verabschieden wir uns jetzt sofort, und Sie werden keine Möglichkeit haben, mich jemals wiederzufinden. Die Nummer, die ich in den Telefonaten mit Ihnen benutzt habe, läuft auf den Namen eines Chinesen, den es gar nicht gibt. Und falls Sie mich jemals aufspüren sollten, werde ich sagen, wir haben uns missverstanden oder alles war erfunden. Sie haben mich sicher nicht auf Tonband aufgenommen. Ich bin überzeugt, dass Sie nicht der Typ sind, der mit einem Aufnahmegerät in der Tasche zu einer Verabredung kommt.«
»Wenn ich Sie verraten wollte, würde ich es ganz am Ende tun, wenn Sie mit Ihrer Geschichte fertig sind. Nicht am Anfang.« Ich provoziere ihn. Ich möchte ihn auf die Probe stellen, sehen, wozu er fähig ist.
Simone Pace scheint genau zu wissen, was er antworten muss. Sein Ton, immer noch mit gedämpfter Stimme, klingt noch entschiedener als zuvor: »Das wird nicht passieren. Ich habe Ihnen nicht meinen richtigen Namen genannt, wenn ich überhaupt einen habe. Sie wissen nicht, wo ich wohne. Sie wissen gar nichts von mir. Ich bin für Sie nur ein Phantom. Und Phantome existieren nun mal nicht.« Er richtet den Blick wieder geradeaus auf den Altar, wo in einer beleuchteten Vitrine die Ketten liegen, mit denen der heilige Petrus gefesselt war. Er ist gewieft. Wenn er tatsächlich ein operativer CIA-Agent sein sollte, ist Simulation und Verstellung sein Beruf.
»Wenn Sie nicht überzeugt sind, lassen wir es bleiben«, beginnt Simone Pace erneut und blickt weiter geradeaus. »Hören Sie«, und jetzt sieht er mir entschlossen in die Augen. »Wenn Sie mir zugehört haben, werden Sie mich, glaube ich, nicht verraten. Sie sind an das Berufsgeheimnis gebunden. Sollte mich eines Tages tatsächlich jemand aufspüren, werde ich sagen, dass ich alles erfunden habe. Aber wenn Sie mir glauben, werden Sie erzählen können, was in den vergangenen Jahren in Europa tatsächlich passiert ist. In Italien, in Frankreich, in Belgien.«
»Werden Sie mir auch Beweise für das liefern, was Sie mir erzählen?«
Simone Pace lächelt erneut und schüttelt den Kopf. »Beweise sind etwas, das man konstruiert. Nein, für reale Vorkommnisse gibt es keine Beweise. Ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Bei den Operationen, an denen die Vereinigten Staaten beteiligt sind, agiert die CIA so, dass es keine Beweise gibt. Und wenn es welche gibt, werden sie getilgt.«
»Aus den CIA-Archiven?«
»Nein, überall. Auch in den italienischen Institutionen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Leute eingeschleust wurden. Sie sind überall. Du klopfst an eine Bürotür und findest sie selbst da, wo du es nicht erwartest. Die CIA ist ihr Nebenberuf. Vielleicht aber auch ihr Hauptberuf. Nach einiger Zeit weißt du nicht mehr, wer dein wahrer Arbeitgeber ist, und du weißt auch nicht mehr, welches deine Fahne, deine Regierung, dein Staat, dein Volk ist.«
»Ihr treibt also ein doppeltes Spiel?«
»Wir sehen uns eher als Phantome.«
»Und in welchem Büro arbeitet Simone Pace noch, außer für die CIA?«, frage ich mit leiser Stimme.
Er wirkt überrascht. Er musste mit dieser Frage rechnen, hat sie aber offenkundig nicht so früh erwartet. »Ich arbeite für den öffentlichen Dienst«, sagt er. Er merkt, dass seine Antwort nicht präzise genug ist. »Beachten Sie, dass ich für und nicht im gesagt habe.« Er wird von lauten Stimmen in seinem Rücken unterbrochen.
Eine Schulklasse kommt herein, etwa sechzig Gymnasiasten. Sie sind so unkonzentriert und lärmend, dass ihre beiden schon etwas älteren Lehrerinnen schreien müssen, um sie zur Ordnung zu rufen. Es sind keine Italiener, aber mir ist unklar, woher sie kommen. Drei Mädchen setzen sich in unsere Bank. Eine der Lehrerinnen ruft sie zurück, und dann bleibt die ganze Gruppe vor dem Moses stehen. Es wird wieder still.
»Von welchen Operationen wollen Sie mir erzählen?«, frage ich, als sich die drei Mädchen weit genug entfernt haben.
»Operationen in Italien, Frankreich, Belgien, der Schweiz, Österreich, Russland, Israel. Geldübergabe an politische Parteien. Diebstahl geheimer Dokumente. Anschläge der Mafia. Einschleusung von Informanten in feindliche Territorien. Rekrutierung weiterer operativer Agenten. Beschaffung der Kommunikationscodes von Moskau. Jagd auf Terroristen in Paris. Entführungen. Mindestens drei Morde. Aber Sie müssen Geduld haben. Ich liefere Ihnen kein Material für einen Artikel, sondern eine lange Geschichte in Fortsetzungen. Ich werde Ihnen nicht alles auf einmal erzählen. Es braucht Zeit. Sie müssen Schritt für Schritt herangeführt werden, sonst glauben Sie mir nicht. Ohne die Kenntnis der Vergangenheit können Sie die Gegenwart nicht verstehen.«
Читать дальше