ANNETTE EEKMAN (Revierarbeiterin): » In jeder Gesellschaft gibt es Menschen, die von so einem Zustand Gebrauch machen, um daraus Vorteile zu ziehen. Die dann auch selbst Unrecht an anderen begehen. Das ist so alt wie die Welt. Ich stelle das nicht mit Verbitterung fest – das ist eine Lebenswahrheit. Wir haben immer versucht, so weit wie möglich Solidarität zu üben. Andere haben das nur in einer Linie getan und nur Kommunisten geholfen oder nur Katholischen, das gab es auch. Das sind Phänomene wie im wirklichen Leben auch .«
Die Lagerleitung von Ravensbrück hatte anfangs – wie in fast allen anderen Lagern auch – vorwiegend Häftlinge mit grünen oder schwarzen Winkeln, also laut ihrer Kategorisierung ›Kriminelle‹ oder ›Asoziale‹, in Führungspositionen eingesetzt.
AENNE MEIER: » Die Lagerleitung hat ungeheuren Wert drauf gelegt, Ordnung zu halten. Für die Sauberkeit in den Blocks wurde der Zimmerdienst bestellt, das waren für diese Arbeit ausgewählte Häftlinge. Die Berufsverbrecherinnen wurden sehr oft zu Blockältesten, also zum Aufsichtsdienst in den Blocks ausgewählt. Man meinte, die hätten mehr Bereitschaft zu schlagen und es fiele ihnen nicht so schwer, Anzeigen zu machen, also Häftlinge zu verklagen. Sie glaubten, durch sie eine bessere Zucht zu erreichen .«
Die Kriminellen und Berufsverbrecherinnen wurden von fast allen verachtet.
ANNETTE EEKMAN: » Es sind auch Menschen, und die haben das auch erlebt. Noch schlimmer als wir. Aber niemand hat sie geachtet, weder die SS-Leute, die Aufseherinnen noch die Häftlinge. Sie hatten eine Position, man hat sie gebraucht, aber sie wurden von jedem missachtet. Mit ihnen gab es keine Solidarität. Wir haben niemals daran gedacht, Kriminellen oder Häftlingen mit grünem Winkel zu helfen. Jetzt kann ich mir das vorwerfen. Aber es gab so wenige Möglichkeiten zu helfen, dass man doch auswählen musste. Und so hat man erst die gewählt, die einem näher standen. Aber das ist die Struktur, die die SS dort aufgebaut hat. Dieselbe schlechte Behandlung war gegen alle gerichtet, egal ob grüne, schwarze oder rote Winkel. Wenn jemand schmutzig und verkommen war, hatte er weniger Glück als jemand, der sich im Maß des Möglichen versorgte. Weil politische Häftlinge einander halfen, hatten sie mehr Möglichkeiten als z.B. die Schwarzwinkel. Das ist eine Kette, und das geht dann so weiter. Man hätte sich selbst Gewalt antun müssen, um zu sagen, denen muss man auch helfen .«
Politische Häftlinge in Funktionen
In der ersten Zeit – 1939 bis 1940 – schien das System zu funktionieren: Die grün- und schwarzwinkligen Funktionshäftlinge führten ein hartes Regime im Lager. Dazu kam, dass sie anfangs deutlich in der Mehrzahl waren. Mit der zunehmenden Einlieferung von politischen Häftlingen veränderte sich jedoch die Situation.
ANTONIA BRUHA: » Die ›Politischen‹ im Lager sind sich bewusst geworden, dass sie von bestimmten Posten aus – auf denen am Anfang ›Asoziale‹ und ›Berufsverbrecher‹ gesessen sind – den Häftlingen ein bisschen helfen konnten. Das waren das Büro in der Kommandantur, das Büro im Revier, die Arbeitseinteilung und der Arbeitseinsatz. Das waren die Fürsorge, die diversen Blockältesten, die Stubenältesten und die Anweisungshäftlinge. So hat man sich bemüht, diese Posten mit ›Politischen‹ zu besetzen .«
HERMINE JURSA: » Jetzt war es natürlich sehr wichtig, wenn z.B. politische Zugänge aus den Gefängnissen gekommen sind. Da haben wir sofort Nachricht gekriegt, denn wir haben die Aufnahmen bearbeitet. Das wurde dann weitergegeben an den Arbeitseinsatz. So waren wir immer informiert, wer angekommen ist, und wir haben versucht, diese Menschen irgendwo einzusetzen, wo sie lebenserhaltende Arbeit leisten konnten .«
So war es möglich, dass Neuankömmlinge bereits bei ihrer Ankunft auf Häftlinge stießen, die um ihre Herkunft und Gesinnung wussten und ihre Funktionen dazu benutzten, Kontakte zwischen Bekannten oder Gleichgesinnten, zwischen Angehörigen oder Gefangenen aus derselben Stadt herzustellen.
AENNE MEIER: » Da war eine Kameradin aus Saarbrücken, die vor mir verhaftet wurde und vor mir ins Lager kam. Die wurde bei der Bauleitung beschäftigt, und von ihr hab ich nachher so manchen Hinweis bekommen, wie ich mich verhalten soll. Mit der hab ich mich auch öfters sonntags getroffen, wenn die SS keine Zeit hatte, im Lager herumzuschnüffeln. Da haben wir unsere Messe gehalten, bis zu zehn Häftlinge, die sich kannten. Man hat in Gedanken teilgenommen, als ob man zur Kirche gegangen wäre. Oder man stand beim Appell nebeneinander; ich mit einer Generaloberin, einer Lehrerin und einer Fürsorgerin. Während die Häftlinge sich unterhalten und Witze gerissen haben, haben wir, solange der Appell gedauert hat, leise vor uns hingebetet. Drei Rosenkränze und die Messe, und dann war der Appell oft immer noch nicht vorbei. So lange musste man draußen stehen, nackt, mit nichts im Leib .«
ILSE REIBMAYR: » Wir hatten alle Arten von Handwerkern unter den Frauen. Es hat Dachdecker gegeben, Installateure, alles, was es gibt. Sie haben ihre Begabungen in unglaublicher Weise eingesetzt und es tatsächlich oft zur Meisterschaft gebracht .«
MARTA BARANOWSKA: »Das waren alles Häftlinge: die Lagerpolizei, die Ärzte, die Blockältesten, die Stubenältesten und die politische Leitung. In Zusammenarbeit mit den Kommunisten haben wir es geschafft, alle Posten mit politischen Häftlingen zu besetzen. Das funktionierte, wir hatten keine Häftlinge, die gemeinsame Sache mit der Gestapo machten. Wir waren einander sicher.«
ANNETTE EEKMAN: » Die grünen, die kriminellen Häftlinge, die hatten so gut wie gar kein soziales Gefüge. Wenn die eine bessere Stelle hatten, so nutzten sie die nur für die Verbesserung des eigenen Lebens. Die haben alles angenommen, was man ihnen angeboten hat. Auch das Prügeln im Bunker. Wenn z.B. eine Strafaktion durchgeführt werden musste, dann wusste die SS, die ›Politischen‹ würden das nicht tun. Dann fragten sie einen kriminellen Häftling. Die nahmen das ohne Hemmungen an. Politische Häftlinge weniger. Es ist geschehen. Ich mache keine Engel aus ihnen. Aber sehr, sehr selten. Wenn politische Häftlinge privilegierte Stellungen eingenommen haben, dann haben sie das in der Hoffnung getan, das Leben innerhalb des Lagers zu verbessern. Ein Beispiel dafür ist Rosel Jochmann 3, die Blockälteste in Block 3. Sie hat natürlich auch Fehler gemacht. Wer macht das nicht? Aber sie wurde anerkannt, weil sie gut organisierte. Die SS war zufrieden, weil alles gut lief, und die Häftlinge waren auch zufrieden, weil es eine menschliche Ordnung war. Ich erinnere mich an eine Deutsche, die war schon elf Jahre in Haft. Elf Jahre! Und die hat gedacht: Ich komme hier nie raus. Leute, die so lange in Haft waren, die mussten sich irgendwie organisieren. Und sie haben das auch getan .«
Bereits 1940 besetzte ein politischer Häftling, die deutsche Kommunistin Bertha Teege, die wichtigste Position der Funktionshäftlinge, nämlich die der Lagerältesten, als verantwortliche Lagervertreterin gegenüber der SS.
MARTA BARANOWSKA: » Was es brauchte, um dort zu überleben, war Freundschaft. Freundschaft mit unseren Vertrauensmännern in- und außerhalb der Blocks. Wir haben das geschafft, was Bertha Teege angesagt hat, als ich ins Lager kam: dass wir alle Funktionen mit politischen Häftlingen besetzen sollen. Damit hatten wir schon bessere Verhältnisse .«
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