Die Tante versorgte die Mädchen im Keller ihres Hauses mit Essen. Nach Klopfzeichen wurde die Falltüre geöffnet, doch nur selten kam jemand runter. » Ja, und dann verging der Tag mit Quatschen, mit Dummheiten machen und Radio hören. Es gab auch eine Setzerei. Mein Vater hatte die organisiert. 7Es war dann meine Aufgabe, die Buchstaben für die Flugblätter zu setzen, und mein Vater hat das dann abends gedruckt. Für mich war das nie langweilig .«
Nur nachts durfte Elfriede ab und zu nach draußen. » Wir waren von 1940 bis 1941 in dem Keller, ein bisschen mehr als ein Jahr. Wenn ich nachts rauskam, standen meine Brüder da und haben auf mich aufgepasst. Ich hab einen Frühling erlebt bei Nacht. Ich hab den Sommer erlebt bei Nacht .«
In ihrem Versteck bekam die sechzehnjährige Elfriede zum ersten Mal ihre Periode. Sie stand Todesängste aus: Niemand hatte sie aufgeklärt, und sie befürchtete eine schlimme Krankheit. Als die Tante endlich kam, erfuhr sie, was los war. » 1941 sind meine Onkel und Tanten immer mehr unter Kontrolle geraten. Wenn ich dann nicht raus durfte, gab es schon Tage, wo ich aggressiv wurde. Dann gab es auch Zeiten, da ist nur ein Brief runtergefallen: ›Wir können jetzt nicht kommen.‹ Da wurde ich natürlich sauer. Vor allen Dingen haben sie mich gewarnt, weil ich immer so böse wurde. Ich wurde richtig wild und aggressiv. Ich wollte mit Gewalt raus. ›Ist mir scheißegal, was passiert! Ich hab das satt bis oben hin! Ich lass mich nicht länger einsperren! Sie sollen mich erst einsperren, wenn ich ins Gefängnis komme.‹ So hab ich da unten rumgeschrien. Und manchmal bin ich auf dem Boden gelegen und hab mit den Fäusten auf die Erde eingeschlagen. Dann haben sie mich wieder beruhigt und haben gesagt: ›Willst du deinen Vater und deinen Onkel in Gefahr bringen?‹ Da kam ich wieder zu mir. Aber es gab schon schwere Stunden. Und dann hat uns einer verraten .«
Erst nach dem Krieg erfuhr Elfriede Schneider, dass es jemand aus der Familie war.
»Nachher war mir völlig egal, wie ich ausse he«
» Mein Vater hat gewusst, dass wir verraten werden. Er konnte zwar die beiden Mädchen vorher noch nach Frankreich bringen, aber mich nicht mehr wegschaffen. Ich wäre auch nicht weg von ihm. Ich hab immer gedacht: Wenn mein Vater oder mein Onkel bei mir ist, kann mir nichts passieren. Den Glauben hab ich bis zuletzt gehabt, bis sie meinen Vater dann von mir weggerissen haben .«
Die letzten acht Tage verbrachte die Siebzehnjährige alleine im Keller, sie spürte, das etwas Schlimmes geschehen würde. » Ich war alleine, die Maschine war weg, kein Papier, nichts mehr war da. Ich durfte auch nachts nicht mehr raus. Ich hab keinen Bruder, niemanden mehr gesehen. Das war die schlimmste Zeit, die letzten acht Tage da unten. An dem Tag, als ich verhaftet worden bin, kam mein Vater zu mir und sagte: ›Was jetzt auf dich zukommt, das musst du gefasst nehmen. Denk aber immer daran, dass ich bei dir bin, egal, wo du bist.‹ Dann hat er mich fest an die Hand genommen. Auf einmal haben wir Stiefel gehört, schwere Schuhe und Gebrüll. Dann hab ich einen Schrei gehört, und die Falltür ging auf. ›Gestapo. Ihr seid verhaftet! Rauskommen!‹, mit der Pistole in der Hand. Da habe ich zu meinem Vater gesagt: ›Gott sei Dank.‹ Der konnte das gar nicht fassen. Ich hab wirklich geglaubt, jetzt bin ich frei. Jetzt kann ich wieder heim. Jetzt bin ich aus allem raus. Der Meinung war ich, bis ich ins Gefängnis kam .«
Im November 1941 war Elfriede Schneider gerade siebzehn Jahre alt und kam nach mehr als einem Jahr direkt aus dem Keller ins Gefängnis. Sie wurde verhört, geschlagen, durfte ihre Eltern nicht sehen und wusste nicht, was mit ihnen passierte. Im KZ Rudersberg, wohin man sie nach einigen Wochen brachte, verweigerte sie die Arbeit und wurde nach acht Wochen wieder abtransportiert. Nach vielen Stationen erreichte sie das Gefängnis Berlin-Alexanderplatz. » Im Alex war ich acht Tage. Das war eine große Zelle, in der Frauen, alte Frauen und Kinder eingepfercht waren. Wochenlang war ich in denselben Klamotten. Ich hatte nur morgens ein bisschen Wasser fürs Gesicht. Ich hab Ausschlag gekriegt am ganzen Körper, am Rücken, im Mund, überall, durch den Schmutz. Ich hab gerade mal ne Schale voll Wasser gesehen. So dreckig, wie ich war, kam ich auch auf den Transport. Aber da hat niemand gefragt: ›Ja, wie siehst du denn aus?‹ Nachher war mir völlig egal, wie ich aussehe. Ich hab bloß immer um mich geguckt und gesehen, dass die andern genauso aussehen wie ich. Ich hab mich damit abgefunden. Ich kam nach Auschwitz. Dort auf der Rampe wurden wir gleich aussortiert: dahin und dahin. Die Kranken raus. Da war ein Arzt. Ich nehme an, das war Mengele. Der kam und hat mich angesehen und fragte, wie ich heiße. Da hab ich gesagt: ›Mergenthaler.‹ Er fragte mich, ob der Reichsminister Dr. Mergenthaler 8aus Stuttgart mein Onkel wäre. Da hab ich automatisch gesagt: ›Ja.‹ Ich kam gleich auf die Seite. Zwei Tage später bin ich in Lublin gewesen. Dort war ich sechs, sieben Wochen und kam dann ins Jugendschutzlager Uckermark. Im Sommer 1942 bin ich dort angekommen .«
»Ich hab mich geekelt vor den Frauen«
Das Jugendschutzlager Uckermark war im Mai 1942 als Jugend-KZ für jugendliche weibliche Häftlinge eröffnet worden. Angesiedelt ganz in der Nähe des Frauen-KZ, unterstand es der Verwaltung von Ravensbrück. » Wir sind ausgestiegen in Fürstenberg am Bahnhof. Dort waren gleich die SS-Frauen da, mit Hunden, und SS-Männer. Wir mussten uns hintereinander stellen, und dann ging’s ab, wir mussten laufen bis in die Uckermark. Das war oberhalb von Ravensbrück im Wald. Als ich reinkam, waren das nur drei Blocks und kein Zaun. Wir haben graublaue Kleider bekommen .«
Die jungen Mädchen wurden einem militärischen Drill unterzogen. » Fünf Uhr Wecken, aufstehen, raus, Turnhose und Hemd an und zum Sport. Da sind wir bei Sturm und Regen und Wind immer im Kreis gerannt. Das war unser Frühsport und dann in der Turnhalle Sport treiben. Arbeiten musste ich unten am See, Schiffe be- und entladen. Da musste ich auch mal Kohlen ausladen. Ich hab einmal nur einen Satz vor mich hingesprochen, da hatte ich schon einen Tritt im Hintern: ›Du Schwein, willst du wohl arbeiten! Du Drecksau!‹ Mir liefen bloß die Tränen runter. Wenn ich so in den See reingeguckt hab, hab ich so für mich gedacht: ›Da reinspringen, und du bist von allem erlöst.‹ Dann hab ich wieder gedacht: ›Ach nein, wer weiß, bist noch so jung.‹ Die anderen waren alle reifer als ich. Die haben mir Sachen erzählt, da hab ich bloß mit den Ohren geschlackert. Das war eigentlich der erste Schock, den ich gekriegt habe, die Sachen über die Liebe, und wie man das macht. Die haben mir das alles erzählt. ›Hast du schon mit einem Kerl geschlafen?‹ Das war meine erste Berührung mit dem ›Thema eins‹. ›Komm mal mit, dann zeigen wir dir, wie man’s macht.‹ Abends, wenn wir in den Betten lagen, die waren drei Etagen hoch, lag ich ganz oben. Da haben sie gerufen: ›Willst du mal runterkommen und gucken? Guck mal, was wir treiben.‹ Ich hab mich geekelt vor den Frauen. Ich hatte das noch nie in meinem Leben gesehen. Ich hab mir gedacht: ›Mensch, was seid ihr Dreckschweine.‹ Mich durfte keine Frau anfassen. Wenn mich eine angefasst hat, wurde ich hysterisch und schrie: ›Fass mich nicht an!‹ Die haben bloß gelacht und gekichert. ›Stell dich nicht so an! Das wirst du schon noch erleben.‹ Ich wurde von Vierzehn-, Fünfzehnjährigen aufgeklärt, wie das geht, und wenn du ein Kind kriegst und, und, und. Das wusste ich doch alles nicht. Ansonsten lief ein Tag wie der andere ab, arbeiten, morgens raus und abends rein, Sport und rüber in den Bastelraum. Das war dann halt mein Leben .«
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