Von Alexandra Caragata
Und dann geschah es. Das Ende trat ein. Und niemand hatte ihn auf dieses Ende vorbereitet. Gänzlich unerwartet trat das Ende ein. Und doch gewollt. So schien es ihm zumindest, dem namenlosen Erfinder von Geschichten. Er hatte die Charaktere von Sillas und Glathener erfunden und in Schriftwerke verwandelt. Er hatte ihnen ein Schicksal, ein fremdbestimmtes Schicksal im Namen der zeitlosen Gestalt einer Staubkönigin gegeben.
Doch nun hatte er diese imaginären Gestalten nicht mehr bei sich. Was er nun vor sich hatte, war eine überfüllte Straße, das Lenkrad in der einen und eine halb fertige Zeichnung in der anderen Hand. So gelangweilt war der Namenlose vom Leben, dass er sogar am Steuer zeichnete. Und das war zugleich sein Todesgrund.
Ein lauter Knall. Nicht mehr als das. Nur ein lauter Knall. Wie ein Sturz aus heiterem Himmel. Das war sein Tod. Der Namenlose starb in dem Augenblick, als eine Sendung im Radio lief.
In der Radiosendung wurde eine Theorie über Sternenstaub präsentiert, der Moderator und seine Gäste diskutierten eifrig darüber, ob Menschen tatsächlich die Elemente untergangener Sterne sein könnten, und ob sich auf dieser Grundlage ein rückwärtsgerichtetes Zeitempfinden in Paralleluniversen begründen ließe.
Doch das konnte der Tote nicht mehr erfahren. Er starb am Anfang dieser Radiosendung, ohne dass jemand ihn hätte davor warnen können. Einsam starb er in einem Fahrzeug, das nur noch einem Wrack ähnelte. Er starb einen Tod, der sinnloser nicht hätte sein können.
Nun war er tot. Unvorbereitet war er gestorben. Er starb einen Tod aus Langeweile. Bei diesem Gedanken sah der Tote, wie seine Seele sich vom Körper löste und nach oben stieg, in die Luft, die er nicht mehr atmete.
Geschmeidig, sachte, zögerlich und schwermütig lösten sich die körperlichen Sinne von ihm. Als Erstes erkannte er, dass ihm die Beine taub wurden – sosehr er sich anstrengte, er konnte seine Beine nicht mehr bewegen. Daraufhin übertrug sich dieses Taubheitsgefühl von den Beinen auf den gesamten Körper, bis es auch das Herz, den Lebensmotor erreichte. Als sein Herz aufhörte zu schlagen, wurde es ihm bewusst, dass er wirklich starb.
Der Tote wurde zum Geist. Mit leeren Augen, die nur noch in Gedanken sehen konnten, so blickte er über seinen leblosen Körper und die Köpfe der entsetzten Zuschauer an der Unfallstelle hinweg. Dabei schien er vorerst nicht den Begleiter zu erkennen, der ihm wie aus dem Nichts entgegenkam und sich zu den anderen Personen an der Unfallstelle dazu gesellte.
Nur zu gut merkte jedoch der Verstorbene, dass diese Gestalt nicht zu den lebenden Zuschauern an der Unfallstelle gehörte. Eine Gestalt, gänzlich aus Luft bestehend, wie ein guter Erzengel, der in den Tod ruft.
„Unvorbereitet bist du auf das, was noch auf dich zukommt“, sagte die Engelsgestalt zum Verstorbenen, ohne dass jemand – außer der Tote – diese Stimme hörte.
„Ich kann dir helfen, dich auf den Tod vorbereiten“, fügte die durchsichtige Engelsgestalt mit beruhigender Gedankenstimme noch hinzu.
Daraufhin sah der Verstorbene widerwillig zur Engelsgestalt hin.
„Sinnlos ist alles, im Leben wie im Tod. Das habe ich im Moment des Sterbens begriffen. Und deshalb brauche ich deine Hilfe nicht. Geh´ und such´ dir andere Seelen“, antwortete der Verstorbene.
„Gerne kannst du auf meine Hilfe verzichten“, erwiderte die Engelsgestalt.
„Das werde ich“, antwortete der Geist in Gedanken voller Selbstbestimmung.
„Dann bleibst du weiterhin auf der Erde, am Todesort deiner Unfallsstelle, dort, wo du niemals zur Ruhe kommen wirst.“
„Ja, das will und werde ich“, bestätigte der Verstorbene, ohne sich wirklich Gedanken über das unruhige Dasein eines Geistes auf der Erde zu machen.
Daraufhin verabschiedete sich die Engelsgestalt vom Geist. Und der Geist blieb alleine zurück. Unter den Lebenden, die nur noch den bewegungslosen Körper sahen, der ihn vormals nach außen präsentierte.
Wie gerne beobachtete er sie, ohne je wieder von ihnen gesehen zu werden. Die Lebenden, gänzlich verfangen im Adrenalin der zeitlichen Sinnesempfindungen, die er nicht mehr spüren konnte.
Noch hörte er die vergeblichen Hilferufe der anderen, man solle helfen, der Mann befände sich in einer lebensgefährlichen Lage, dabei war er zu diesem Zeitpunkt längst tot.
Der Körper wurde taub, aber sein Bewusstsein blieb vorhanden. Der Körper starb, während die Seele noch immer in ihm lebte. Bei diesen Gedanken beobachtete der Geist weiterhin das Geschehen um seine Leiche und erkannte dabei die Zeichnung, die er zuvor am Steuer angefertigt hatte.
Ein großer Faden war auf dieser Zeichnung abgebildet. Im Zuge der seelischen Schwerelosigkeit schien dieses Zeichnungsmotiv wie ein Abschied von der Materie, die nun vorbeigezogen und mit der Zeit verflogen war, so schnell vergangen, als sei sie niemals dagewesen, so dachte es sich der Geist.
Aus der Höhe beobachtete er noch seine Zeichnung. Die gezeichnete Person im kreisrunden Fensterbild, eine Gestalt in Schatten bedeckt. Daneben wuchs eine Pflanze empor, die Pflanze schlug Wurzeln und hauchte der Zeichnung eine Nuance Menschlichkeit ein.
Die gezeichnete Person wurde für ihn, den namenlosen Erschaffer, zu einer bewegten Filmaufnahme. Ein schläfriger Augenblick erweckte zum verlorenen Leben. Gezeichnet in wilden Kugelschreiberstrichen am Steuer des Unfallfahrzeugs. Die Geschichte, als das Übersinnliche begann. Und dann…
Und dann verließ der sterbende Mann seinen Körper und entwickelte sich zum Geist, zum ruhelosen Geist. Seine Seele lebte auf der Erde fort und fand niemals Ruhe. Immer wieder wanderte der Geist zum Unfallort zurück, dahin wo er in einer kalten Winternacht starb. Ein nächtlicher Spuk auf leeren Straßen. Gesehen wurde er dabei nicht.
Wie schön es doch war, ungesehen, unbemerkt zu bleiben. Mit niemanden bekam er Ärger, von niemandem störte er den Frieden. Niemand lästerte noch über ihn, niemand lobte, beleidigte, kritisierte oder wertschätzte ihn. Niemand nahm ihn wahr.
Als Toter müsste er jetzt seinen ersehnten Frieden finden – eigentlich könnte er glücklich sein. Daran dachte unser Geist, als er unzählige Male zu seinem Unfallort zurückkehrte. Und doch nagte die Unruhe an ihm.
Als Toter hörte er noch die vergeblichen Hilferufe, seine erstickten Schmerzensschreie. Neben ihm lag die Zeichnung. Blutüberströmt neben dem leblosen Körper, der bis vor kurzem noch ihm gehört hatte.
Nach seinem Tod wurde diese Zeichnung für ihn zu einer bewegten Filmaufnahme. Zeitlos. Das war diese Zeichnung für ihn, den Geist, der immer suchte und niemals fand. In ihren Kugelschreiberstrichen ließ diese Zeichnung vieles Revue passieren. Ein ganzes Menschenleben.
Bei diesem Gedanken fand der Geist des Verstorbenen keine Ruhe. Immer wieder kehrte er zum Unfallort zurück und ließ den Augenblick seines Todes jedes Mal neu aufleben. Bald erkannte der Geist, dass dieses Umherirren zur Todesstelle ihm keinen Frieden verschaffte.
Zum ruhelosen Geist hatte er sich entwickelt. Der einzige Ausweg aus dieser Ruhelosigkeit war der Himmel. Deshalb wandte sich der Geist mit einer besonderen Bitte an Gott. Der Geist bat Gott um die Erlaubnis in den Himmel.
Lange, so schien es dem ruhelosen Geist, lange gab es keine Antwort vom himmlischen Vater. Viele Bitten musste er in den Himmel schicken. Und noch immer antwortete Gott nicht.
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