Von Alexandra Caragata
Die Hände rissen sich sanft aus dem Herzen der Erde und fremde Landschaften begrüßten den Neuling wieder ins alte Heim. Um ihn herum senkte die Dunkelheit ihren tiefen Schatten. Die Gräber verneigten sich vor dem Auferstandenen und die Erde gewährte freien Lauf.
Im Tod gab es die Stille. Aber die Stille verschwand, sobald es Leben gab. Daran dachte Sillas, als sich das Gefühl seiner wühlenden Hände dem Körper bemächtigte. So verschwand die Stille, als wäre sie nie dagewesen.
Der Lärm schien betörend. Nicht unweit waren Menschen zu hören. Um späte nächtliche Uhrzeit. Unterhaltungen, Gekicher, böse, belustigte Worte. Alleine die Musik der Natur konnte ihn daraus retten. Zum ersten Mal seit undenkbarer Zeit konnte Sillas wieder den Gesang der Eule hören, ihre tiefen verschreckten Schreie als nächtliche Hymne.
Sillas spürte seine Hände, er fühlte die alten, heraustretenden Adern, er strich sich über die faltige rissige Haut, die wie Schleifpapier kratzte. Immer höher streckten sich diese alten Hände empor und gruben sich den Weg nach draußen. Ins Freie. Bis das Gesicht und der Körper frei wurden. Nun konnte Sillas seine Umgebung erkennen. Ein Friedhof. Rund um ihn nur die Trauerlandschaft der Gräber und Bäume und Bänke.
Die Erde fühlte sich sandig, körnig und bitter auf seiner Zunge an. Gierig saugte Sillas die freie Luft in sich auf, ausgehungert setzten sich seine Schritte in Bewegung. Sillas hatte nichts mehr zu verlieren – außer sich selbst. Aber: Wer war er selbst? Ein leerer Name ohne Erinnerungen. Bei diesem Gedanken betrat er die Reise ins Ungewisse. Seine Beine fühlten sich schwer an, von der Last der Zeit getragen. Die Schritte zitterten bei jedem Anlauf. Befremdlich und ungewöhnlich war das Gehen für ihn.
Sillas hatte ein zweites Leben erhalten. Eine zweite Chance. Er kam als alter Mann zur Welt und sollte als Baby beim Orgasmus seiner Eltern sterben. Diese Geschichte, Sillas Geschichte bildet zugleich das Fundament für diese Erzählung.
Mit langsamen, wackeligen Schritten machte sich Sillas auf den Weg in die Freiheit. Es war ihm klar, dass diese gewonnene Freiheit ihm Ungewissheit schenkte. Ungewissheit für den Faden der Zukunft, der sich aus der Vergangenheit nährte.
Verlassene Hirsche auf industriellem Parkplatz
Sillas verabschiedete sich vom Friedhof der verlassenen Existenzen und betrat bald ein Wäldchen. Er nahm einen langen Fußmarsch auf sich und gewann allmählich wieder das Körpergefühl über seine laufenden Beine. Sillas marschierte vorbei an den Ruinen der Vergangenheit. Geschlossene Fabriken. Verlassene Hotels. Überbleibsel aus der Geschichte einer Nation.
Aus den Ruinen dieser Vergangenheit tauchte Sillas in die Gegenwart des Industriegebiets ein. Lange marschierte er durch das unbekannte Industriegebiet, das sich in der Nähe der verlassenen Ruinen befand.
Während dieses langen Fußmarsches machte Sillas eine seltsame Entdeckung. Zwei Hirsche mitten im Industriegebiet. Ungewöhnlich-zutrauliche Wildtiere, verirrt in der menschlichen Zivilisation. Nicht unweit von der Schnellstraße.
Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen beobachtete der auferstandene Greis die verirrten Wildtiere entlang der Schnellstraße. Zwei Hirsche, ungestört vom tobenden Verkehrslärm der rasenden Autos. Sich selbst überlassen. Sillas konnte nur staunen. Die verlassenen Hirsche weideten auf dem Parkplatz eines Wäschereiunternehmens, das sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Hin und wieder liefen die Wildtiere auch zwischen den geparkten Fahrzeugen herum.
Sillas fing an, sich Fragen zu stellen: Was hatten diese Wildtiere im Industriegebiet zu suchen? Normalerweise seien Hirsche menschenscheu. Reine Waldtiere. Das wusste der auferstandene Greis instinktiv aus dem früheren Leben. Deshalb lag die Vermutung nah, dass die Hirsche auf der Flucht vor Jägern seien; schließlich hatte Sillas während seines Fußmarsches zahlreiche Jägersitze in den umliegenden Wäldern gesehen.
Aus Angst vor den Jägern hatten sich die beiden Hirsche vermutlich vor ihrem natürlichen Dasein, dem Wald entfernt und waren mitten auf dem Parkplatz eines Industrieunternehmens gestrandet, denn dort mussten sie nicht um ihr Leben bangen.
Auf der Flucht vor den Menschen und schließlich unter den Menschen gestrandet. Ein unauflöslicher Widerspruch, der Mensch sein alleiniger Verursacher.
Zugleich ließen die in der Zivilisation gestrandeten Hirsche eine Vorahnung zu – die Vorahnung, dass der Platz fehlte. Für die Natur. Für das Allein-Sein. Für die Harmonie. Für die Gesundheit. Für die Privatsphäre.
Sillas betrat eine zugebaute Gesellschaft, die stets nur auf Fortschritt bedacht war. Eine modernisierte Gesellschaft, wo sich der Mensch alles nahm, was im Weg stand.
Gedankenverloren marschierte Sillas weiter. Bis ihm ein Streifenwagen entgegenkam. Der Lärm der Polizeisirene pochte in seinen Ohren. Erst dann bemerkte Sillas, dass er mitten auf der Verkehrsstraße lief.
Von der Polizei festgehalten
Es gäbe keine Zeit für Ausreden. Er sei mitten auf einer belebten Verkehrsstraße gelaufen. Ob er denn ein Zuhause habe, wollte der Polizist wissen. Sillas antwortete nicht. Es schien, als ob er die Sprache verlernt hätte. Schweigend, mit dem Kopf nach unten gerichtet, so saß er da im Verhörzimmer der Polizei. Drei Polizisten waren anwesend, zwei Männer und eine Frau.
Ob er ein Zuhause habe, so die wiederholte Frage des Polizisten. Ein stilles, schüchternes Nein, die Antwort von Sillas. Bei dieser Antwort schlug der Polizist hart auf den Tisch des Verhörzimmers. Sillas wurde nach draußen in die Sperrzone des Polizeireviers eingeladen.
In der Sperrzone präsentierte der Polizist ihm ein fremdes, unbekanntes Auto. Ob er dieses Auto kenne, so die Frage des Polizisten. Sillas schüttelte schweigsam den Kopf. Mit diesem fremden Auto sei er aber gefahren, beharrte der Polizist.
Sillas wurde verwirrt, man habe ihn doch angehalten, weil er mitten auf der belebten Verkehrsstraße lief. Ja, aber zuvor sei er mit diesem fremden Auto gefahren, dann ausgestiegen und angehalten, so die weitere Aussage des Polizisten.
An seinem unangemessenen Fahrstil hatten die Polizisten erkannt, dass etwas nicht stimmte. Zudem wurden überhaupt keine gültigen Dokumente für das Auto gefunden, scheinbar befand sich das Fahrzeug nicht im Besitz des Festgenommenen. Auch den Sicherheitsdreieck gab es in diesem Fahrzeug nicht.
Sillas wurde zunehmend verwirrter. Dieses Auto meinte er zum ersten Mal zu sehen. Damit sei er noch nie gefahren, sagte er zu den Polizisten. Er käme vom Friedhof, daraufhin sei er durch den Wald zur Schnellstraße gewandert, wo er auf Wildhirsche traf und von der Polizei festgehalten wurde. Die Polizisten sahen ihn ungläubig an, offenbar fühlten sie sich betrogen.
„Bitte lassen Sie mich gehen!“, flehte Sillas die Polizisten an.
„Sie müssen für Ihre schlechten Taten geradestehen“, so die Aussage des jungen Polizisten.
„Na gut, ich wusste nicht, was es für Folgen haben könnte“, erwiderte Sillas.
„Dummheit bestraft das Leben“, entgegnete die Polizistin, die den Fall am Computer protokollierte.
„Raus mit den Namen, wem gehört das Auto wirklich?“, brüllte der Polizist im Raum.
Für Sillas wurde die Situation immer auswegloser. Er musste raus, die stickige Luft des kleinen Verhörzimmers benebelte seine Sinne. Bei diesem Gedanken fiel ihm auch eine passende Ausrede ein.
„Ich habe starke Halsschmerzen und muss dringend raus“, klagte Sillas.
„So schnell kommen Sie hier nicht weg“, schrie der Polizist.
„Ich sterbe vor Halsschmerzen!“, rief Sillas und fasste sich am Hals.
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